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| K a p i t a l<br />
„Die haben keinen<br />
blassen Schimmer!“<br />
Bestsellerautor Rolf Dobelli über Irrtümer, den Goldstandard und die Überforderung des Politikergehirns<br />
H<br />
err Dobelli, Sie sind Experte für<br />
falsches Denken. Was sind die<br />
einschlägigen Denkfehler, die in<br />
Wirtschaft und Politik begangen werden?<br />
Es sind viele. Am häufigsten ist wohl der<br />
Planungsirrtum – also das systematische<br />
Überschätzen der Fähigkeiten bei der Planung<br />
großer Projekte – sei es beim Umbau<br />
eines Bahnhofs oder der Regulierung<br />
des Finanzmarkts.<br />
Sie sagen: Nicht an Dingen festhalten, nur<br />
weil man schon viel in sie investiert hat.<br />
Klingt nach Griechenland.<br />
Das ist die „Sunk Cost Fallacy“. Wir tendieren<br />
dazu, bei neuen Entscheidungen<br />
verlorene und unwiederbringlich ausgegebene<br />
Gelder in Betracht zu ziehen. Ein<br />
fataler Fehler. Es wird argumentiert: Jetzt<br />
haben wir schon so viel investiert in die<br />
Rettung Griechenlands oder in den Bestand<br />
des Euro, jetzt müssen wir weitermachen.<br />
So darf man das aber nicht sehen.<br />
Die Frage muss lauten – unabhängig<br />
davon, wie viel wir schon reingesteckt haben,<br />
ob einen Euro oder eine Trillion: Wie<br />
sieht die Situation heute aus? Ist es das<br />
wert, weiterhin den Euro zu verteidigen<br />
oder Griechenland in der EU zu halten?<br />
Was man schon reingebuttert hat, darf bei<br />
der Entscheidung keine Rolle spielen.<br />
Machen es sich Bestsellerautoren und<br />
Leitartikler nicht vielleicht ein bisschen<br />
leicht und übersehen die Bedingungen,<br />
unter denen Politik abläuft?<br />
Sie haben in einem Punkt recht mit<br />
der Frage: Politische Prozesse sind im<br />
Grunde viel zu komplex für unser Hirn.<br />
Unser Hirn ist für eine Umgebung unserer<br />
evolutionären Vergangenheit gebaut,<br />
die sehr einfach war: 50 Menschen in einer<br />
Kleingruppe, Jäger und Sammler, davon<br />
etwa die Hälfte Kinder, darunter ein<br />
paar Alte. Vielleicht 20 wirklich produktive<br />
Erwachsene, zehn Frauen und zehn<br />
Männer. Immer die gleiche Umgebung,<br />
ein kleiner Bewegungsradius von vielleicht<br />
zehn Kilometern. Und jetzt haben<br />
wir uns eine Welt geschaffen, die viel zu<br />
komplex ist. Unser Hirn ist dafür nicht<br />
geschaffen. Wir verstehen diese Dinge<br />
nicht, auch wenn wir es wollen. Die Welt<br />
mit ihren Handlungsfeldern, wie Politik<br />
oder Finanzmarkt, sind zu komplex geworden.<br />
Deshalb darf man Politikern keinen<br />
Vorwurf machen. Sie haben einen<br />
unmöglichen Job. Ich habe größten Respekt<br />
vor ihnen. Wie auch vor Vorstandschefs<br />
großer Firmen, die stecken genau in<br />
der gleichen Situation.<br />
Wieso soll uns das nicht fit für die neue<br />
Welt gemacht haben? Survival of the<br />
fittest …<br />
Die biologische Evolution hatte gar keine<br />
Zeit, unser Hirn an so etwas wie „globale<br />
Finanzmärkte“ anzupassen. Darum laufen<br />
wir heute mit einer Menge systematischer<br />
Denkfehler durch die Welt. Zum<br />
Beispiel war es seinerzeit in der Steppe<br />
sinnvoll, das Verhalten der anderen zu<br />
kopieren. Raschelte es in den Büschen<br />
und rannten die anderen davon, lohnte<br />
es sich, den anderen hinterherzurennen<br />
und nicht lange zu grübeln. So haben wir<br />
überlebt. Darum gibt es die menschliche<br />
Rasse, darum gibt es dieses Hotel, gibt es<br />
die Stadt Berlin. Menschen, die den anderen<br />
nicht hinterhergerannt sind, haben<br />
nicht überlebt, die sind aus dem Genpool<br />
verschwunden. Wir sind die Nachfolger<br />
jener, die das Verhalten der anderen kopiert<br />
haben.<br />
Wo ist das Problem dabei?<br />
In der heutigen Zeit brauchen wir diesen<br />
Herdentrieb nicht mehr. Er ist sogar<br />
Rolf Dobelli, 46, steht seit<br />
Monaten mit seinen beiden<br />
Sachbüchern „Die Kunst des<br />
klugen Denkens“ und „Die Kunst<br />
des klugen Handelns“, die im<br />
Hanser-Verlag erschienen sind,<br />
weit vorne auf den Sachbuch-<br />
Bestsellerlisten. Nach seinem<br />
BWL-Studium und anschließender<br />
Promotion in St. Gallen<br />
arbeitete er als Geschäftsführer<br />
verschiedener Tochterfirmen<br />
der Swissair. Später gründete er<br />
„get abstract“, den mittlerweile<br />
größten Anbieter für komprimierte<br />
Wirtschaftsliteratur. Obwohl er<br />
selbst Nachrichtenkonsum ablehnt,<br />
erscheinen seine Texte regelmäßig<br />
in der FAZ, der Zeit, im Wall<br />
Street Journal und dem Economist<br />
Foto: Herbert Zimmermann/13 Photo<br />
96 <strong>Cicero</strong> 11.2012