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T i t e l<br />
Fußgängerzonen für das glorreiche Nordkorea<br />
werben, mit Gefängnisstrafen belegen,<br />
und müsste man dann nicht auch<br />
Maos Rotes Buch verbieten? Den Opfern<br />
ist es gleichgültig, ob ihr Leben im Namen<br />
einer rassistischen Ideologie, einer statistischen<br />
Quote wie in Stalins Russland oder,<br />
wie im Falle des Kongos, aus blanker Habgier<br />
zerstört wird.<br />
Die Massenmorde, der Völkermord<br />
der Deutschen und Österreicher und ihrer<br />
Mittäter unter nationalsozialistischer<br />
Herrschaft verlieren nichts an ihrem Schrecken,<br />
nichts von ihrem spezifischen Charakter<br />
und nichts von ihrer verpflichtenden<br />
Natur für ihre demokratischen Erben,<br />
wenn sie in einem größeren historischen<br />
Kontext diskutiert, analysiert und verstanden<br />
werden. Im Gegenteil: Erst ein<br />
synoptisches Verständnis der historischen<br />
Prozesse macht das Wesen des deutschen<br />
Völkermords deutlich.<br />
Durch die Öffnung der Archive in den Ländern<br />
des ehemaligen Ostblocks ist diese<br />
übergreifende Analyse nicht nur möglich,<br />
sondern auch notwendig geworden<br />
und kann zu einem vertieften Verständnis<br />
der Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />
in seiner Gesamtheit führen. Der US-amerikanische<br />
Historiker Timothy Snyder hat<br />
das in seinem kürzlich erschienenen Buch<br />
„Bloodlands“ meisterhaft demonstriert. Es<br />
geht nicht um moralische Äquivalenz und<br />
schon gar nicht um Aufrechnung – es geht<br />
darum, die Schrecken eines Jahrhunderts<br />
und die Mechanismen der Unmenschlichkeit<br />
zu erfassen und in Zukunft zu verhindern<br />
– in Europa und, soweit möglich, darüber<br />
hinaus.<br />
Eine Kontextualisierung der nationalsozialistischen<br />
Verbrechen ist aus einem anderen<br />
Grund notwendig: Das alte Ehepaar,<br />
das beim Irving-Prozess neben mir saß, gehörte<br />
zu den Überlebenden, aber in wenigen<br />
Jahrzehnten werden auch die <strong>letzte</strong>n<br />
von ihnen gestorben sein. Ich bin mit Tätern<br />
und Opfern aufgewachsen – für meine<br />
Generation sind die Grauen des Völkermords<br />
und seine moralischen Verstrickungen<br />
noch in der eigenen Familie mittelbar<br />
erlebte Geschichte. Für Schüler heute ist<br />
der Zweite Weltkrieg kaum stärker präsent<br />
als der Erste, vielleicht sogar als der Dreißigjährige<br />
Krieg. Er ist längst historisch geworden,<br />
eine Jahreszahl ohne emotionale<br />
Wirklichkeit.<br />
Die verlorene Unmittelbarkeit des Erlebens<br />
eines Ereignisses, das unwiderruflich<br />
zur Geschichte wird, kann kein Pädagoge<br />
wieder herstellen und auch kein Besuch im<br />
Konzentrationslager, wo direkt neben dem<br />
verrosteten Stacheldraht Würstchenbuden<br />
stehen. Für junge Deutsche bestehen keine<br />
persönlichen moralischen Verstrickungen<br />
mehr, wohl aber eine moralische Verpflichtung<br />
eines demokratischen und in<br />
„Wenn die<br />
Erinnerung zu<br />
einem leeren<br />
Ritual wird,<br />
kann sie nur<br />
Entfremdung<br />
schaffen“<br />
Wohlstand lebenden Staates mit einer Geschichte,<br />
in der ein Jahrtausendverbrechen<br />
einen zentralen Platz einnimmt und der<br />
aus eigener Erfahrung heraus Freiheit und<br />
Demokratie als zentral begreift. Die Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit, die sie<br />
aufbringen, geschehen heute in Afghanistan,<br />
in Syrien und im Sudan. Nur im Kontext<br />
der Gegenwart kann der moralische<br />
Imperativ, der Kern der deutschen Erinnerung<br />
an den Nationalsozialismus, wachgehalten<br />
werden.<br />
Die Frage, ob sich das Andenken an<br />
die Grauen des Völkermords der Deutschen<br />
je „normalisieren“ darf, ist müßig –<br />
es ist längst passiert. Diese Normalisierung<br />
ist keine moralische Frage, sondern<br />
eine biologische und in gewisser Hinsicht,<br />
soweit sie Migranten aus anderen historischen<br />
Traditionen betrifft, die Deutsche<br />
geworden sind, eine soziale und demografische.<br />
Die Erinnerung als leeres Ritual<br />
kann nur Entfremdung schaffen, heruntergebetete<br />
Betroffenheit (eine sehr deutsche<br />
Tugend) wird zum Schutzschild gegen<br />
die Einsicht, dass uns das Erbe des<br />
Krieges und des Mordens dazu motivieren<br />
muss, uns heute für Menschenrechte<br />
und demokratische Freiheiten einzusetzen,<br />
wo immer sie bedroht werden.<br />
Die gute Neuigkeit ist, wie Dana<br />
Giesecke und Harald Welzer in ihrem gerade<br />
erschienenen Plädoyer „Das Menschenmögliche<br />
– Zur Renovierung der<br />
deutschen Erinnerungskultur“ schreiben,<br />
dass die deutsche Erinnerungskultur ihr<br />
Ziel weitgehend erreicht hat. Auch wenn<br />
er seine Thesen in Deutschland vertreten<br />
dürfte, würde sich kaum jemand für<br />
die Ideen eines David Irving interessieren.<br />
Auch wenn „Mein Kampf“ an jedem Kiosk<br />
zu haben ist, wird es die Bundesrepublik<br />
nicht gefährden. Auch wenn es nicht mehr<br />
lebendige Erinnerung ist, hat das Trauma<br />
des Nationalsozialismus und der eigenen<br />
Schuld die deutsche Gesellschaft nachhaltig<br />
und positiv geformt.<br />
Die Europäische Gemeinschaft ist ein<br />
Kind des Traumas von Europas zweitem<br />
dreißigjährigem Krieg, 1914 bis 1945. Die<br />
Krise der EU stellt die Wirklichkeit von<br />
beinahe drei Generationen Friede, Wohlstand<br />
und Integration infrage und lässt<br />
Stimmen lauter werden, die zurückwollen<br />
zur D‐Mark, zum Nationalstaat und zum<br />
Nationalismus. Wenn wir Hitler und sein<br />
toxisches Buch weiterhin dämonisieren,<br />
stehlen wir uns aus der historischen Verantwortung<br />
Deutschlands, die letztlich zu<br />
der energischen Unterstützung eines föderalen<br />
Europa und dem Ende der miteinander<br />
konkurrierenden Nationalstaaten führen<br />
muss. Wenn wir den Blick auf unsere<br />
Vergangenheit durch Verbote einschränken,<br />
schaffen wir die Illusion, das Verbotene<br />
sei eine Wahrheit, eine Zukunftsvision,<br />
die „das Establishment“ unterdrücken<br />
will. Durch solche Tabus, nicht durch offene<br />
Diskussion, gefährdet man auf Dauer<br />
die Demokratie.<br />
Auch und gerade im Lichte eines neuen<br />
Geschichtsverständnisses, das sich einem<br />
systemischen Verständnis des 20. Jahrhunderts<br />
und seiner Verbrechen verpflichtet<br />
fühlt, wird die europäische Krise für<br />
Deutschland zu einer Herausforderung,<br />
sich für eine Ausweitung von Integration,<br />
Demokratie und Freiheit in Europa einzusetzen.<br />
Philipp Blom ist Historiker<br />
und Autor. Seine Bücher „Der<br />
taumelnde Kontinent“ und<br />
„Böse Philosophen“ wurden<br />
mehrfach ausgezeichnet<br />
Foto: Peter Rigaud<br />
28 <strong>Cicero</strong> 11.2012