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foto: Loredana Fritsch<br />
zu dürfen, so als wollten wir sie in Folterknästen<br />
dafür bestrafen, dass sie uns an das<br />
Ende erinnern. Nur um dieses „So ist das<br />
eben“ nicht hören zu müssen.<br />
Einmal denkt man, der Film „Liebe“<br />
könnte doch noch von etwas anderem<br />
handeln als von Liebe und Tod, nämlich<br />
vom Leben. Die <strong>letzte</strong> Geschichte aus seiner<br />
Kindheit, die Georg seiner gelähmten<br />
Frau Anna erzählt (denn vom Geschichtenerzählen<br />
handelt dieser Film natürlich<br />
auch), ist eine von der Trostlosigkeit des<br />
Lebens. Der kleine Georg ist im Ferienlager,<br />
und er ist sehr unglücklich. In einer<br />
Revolte seines Körpers gegen sein Unglück<br />
wird er schwer krank. Als die Mutter endlich<br />
kommt, um ihn zu erlösen, kann sie<br />
nicht zu ihm: Man hat ihn ins Krankenhaus<br />
gebracht, auf die Isolierstation, und<br />
sie darf nicht zu ihm. Das Leben ist ein Gefängnis,<br />
man bleibt allein. Es gibt keine Erlösung.<br />
Dann greift Georg zum Kissen, um<br />
Anna zu erlösen.<br />
***<br />
Édouard Levés Buch „Selbstmord“ ist ein<br />
eisklares Werk über die Trostlosigkeit des<br />
Lebens (Édouard Levé: „Selbstmord“; aus<br />
dem Französischen von Claudia Hamm,<br />
Matthes & Seitz, Berlin 2012; 112 Seiten,<br />
17,90 Euro; als E‐Book 9,99 Euro). Es ist<br />
eine Hommage an einen Jugendfreund<br />
des Autors, der sich mit 25 Jahren umgebracht<br />
hat, und nach der Fertigstellung<br />
hat er sich selbst das Leben genommen.<br />
Das ist der Horrormoment, den man bei<br />
der Lektüre des Klappentexts erleidet. Bei<br />
Haneke gehören die Hauptfiguren noch<br />
zu „uns“, man kann sie verstehen und sich<br />
in sie einfühlen. Levé beschreibt eine Störung,<br />
einen Menschen, den Depression<br />
und vielleicht auch ein Hauch von Autismus<br />
unheilbar von seiner Umwelt trennen.<br />
Er ist zur Fremdheit verurteilt. „Vielleicht<br />
warst du … eine Zufallserscheinung<br />
der Evolution. Eine kurzzeitige Anomalie,<br />
die nicht dazu bestimmt war, noch einmal<br />
aufzutreten.“<br />
Vielleicht. Ein Rätsel. Wenn man sich<br />
darauf einlässt, ist es von großer Schönheit.<br />
Auch das Herrische, das in der Entscheidung<br />
des Selbstmörders liegt, die Eitelkeit,<br />
die hier so klassisch französisch auf<br />
herrische Weise gefeiert wird, ist natürlich<br />
schön. Levés Erzählung stilisiert das Leid<br />
der Hauptfigur zum Ausdruck einer unbarmherzigen,<br />
heroischen Haltung: „Du<br />
bist gestorben, weil du das Glück suchtest –<br />
auf die Gefahr hin, die Leere vorzufinden.“<br />
Uns erlaubt diese Geschichte den süßen<br />
Schauder der Frage, ob „wir“, die Gemeinschaft<br />
derer, die sich für lebensfähig halten<br />
und das einander tagein, tagaus sportlich<br />
beweisen, wirklich so anders sind als dieses<br />
verlorene, gestörte Wesen und sein selbstmörderischer<br />
Erfinder. Ob wir uns nicht<br />
alle das erlösende „Wir“ immer wieder nur<br />
einbilden und am Abgrund des völligen<br />
Abgetrenntseins vorbeischrammen. Wieder<br />
ist es das Aussprechen und Beschreiben,<br />
das uns Trost spendet und Halt gibt.<br />
Auch die Beschreibung der Trostlosigkeit<br />
tröstet. Erzählen rettet. Nur den Erzähler<br />
selbst in diesem Fall nicht.<br />
***<br />
Der alte und beinahe vergessene König<br />
Mansolin ist todkrank. In seiner kupfernen<br />
Burg in den kupfernen Bergen hat er nur<br />
noch einen Diener, den Hasen. Der Wunderdoktor<br />
muss die richtige Medizin holen<br />
gehen. Und bis er wiederkommt, gibt<br />
es nur einen Weg, den König am Leben zu<br />
erhalten: Die Tiere müssen ihm Geschichten<br />
erzählen. So steht es in einem Kinderbuch<br />
von Paul Biegel (Paul Biegel: „Eine<br />
Geschichte für den König“; aus dem Niederländischen<br />
von Lotte Schaukal, mit Illustrationen<br />
von Linde Faas; Verlag Urachhaus,<br />
Stuttgart 2012; 158 Seiten, 14,90 Euro).<br />
In Büchern für Kinder, die natürlich alles<br />
über Trostlosigkeit wissen, ist das Trösten<br />
ja ganz offen erlaubt. Deshalb sind sie<br />
oft so schön. In diesem werden von den<br />
Tieren viele kleine Lebensweisheiten in die<br />
Geschichten eingeschmuggelt (die Giraffe<br />
will dem Eichhörnchen zum Beispiel nicht<br />
helfen, den verlorenen Sohn zu finden,<br />
und muss also ausgetrickst werden). Und<br />
wenn die Illustrationen nicht ganz so verschnarcht<br />
wären, dann wäre dies bestimmt<br />
das schönste Buch des Winters. Aber man<br />
kann nicht alles haben, liebe Kinder! „So<br />
ist das“, würde Georg in Michael Hanekes<br />
Film vielleicht sagen. Wir leben und erzählen<br />
einander Geschichten. Dann sterben<br />
wir. Können wir jetzt von etwas anderem<br />
reden?<br />
Robin Detje<br />
lebt als Autor, Übersetzer und<br />
Performancekünstler in Berlin<br />
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11.2012 <strong>Cicero</strong> 153<br />
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