Antike Philosophie: Platon - Mathematik ... - Griechische Antike
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SOKRATES: Aus dem, was du zugestehst, folgt doch aber, es sei Tugend, wenn man mit<br />
einem Teile der Tugend seine Handlungen vollzieht. Denn die Gerechtigkeit erklärst du ja<br />
für einen Teil der Tugend wie alles dahin Gehörige.<br />
MENON: Was meinst du damit?<br />
SOKRATES: Dies: Trotz meiner Bitte die Tugend als Ganzes zu bestimmen erklärst du sie<br />
ihrem eigentlichen Wesen nach nicht im mindesten, behauptest vielmehr, jede Handlung<br />
sei Tugend, wenn sie mit einem Teil der Tugend vollzogen wird, als hättest du die Tugend<br />
bereits als Ganzes bestimmt und als ob ich ohne weiteres das nötige Verständnis haben<br />
würde, auch wenn du sie in Teile zerstückelst. Du siehst dich also, lieber Menon, wie mich<br />
dünkt, abermals zum Anfang zurückgedrängt, nämlich zu der Frage „was ist Tugend“,<br />
wenn jede mit einem Teil der Tugend zusammenhängende Handlung Tugend sein soll.<br />
Denn dies besagt doch die Aussage dessen, der behauptet, daß jede Art von Handlung,<br />
die mit Gerechtigkeit vollzogen wird, Tugend ist. Oder meinst du, es bedürfe nicht noch<br />
einmal der nämlichen Frage, sondern um das Wesen eines Teiles der Tugend zu kennen,<br />
brauche man nicht erst sie selbst zu kennen?<br />
MENON gibt sich geschlagen. Das ist das Ende jenes Dialogteils von Menon, den man als<br />
aporetischen Definitionsdialog auffassen kann.<br />
Es lohnt sich, einen kurzen Blick auf den Grund zu werfen, mit dem der platonische<br />
SOKRATES den letzten Definitionsversuch für gescheitert erklärt: Bei einer Definition, die auf<br />
das Erfassen des Wesens eines Begriffs zielt, darf nach Auffassung des platonischen<br />
SOKRATES offensichtlich nichts herangezogen werden, was selbst unter den zu<br />
definierenden Begriff fällt. Akzeptiert man, wie MENON, dieses Anforderung, so wird das ja<br />
schon von Hause aus nicht besonders anspruchslose Konzept der Erfassung des Wesens<br />
nochmals erheblich verkompliziert.<br />
Bei modernen wissenschaftlichen Definitionen – die allerdings auch nicht auf das Erfassen<br />
des Wesens zielen – hat man solche Skrupel nicht. Wenn z.B. die Konzepte der<br />
Differenzialrechnung für komplexwertige Funktionen eingeführt werden sollen, so greift<br />
man bei den entsprechenden Definitionen gern und völlig schamlos auf die Konzepte der<br />
Differenzialrechnung für reellwertige Funktionen zurück. 90 Und dies, obwohl komplexwertige,<br />
differenzierbare Funktion ein echter Oberbegriff zu reellwertige, differenzierbare<br />
Funktion ist (die reellen Zahlen sind eine echte Teilmenge der komplexen Zahlen). Das<br />
Ganze wird also mit Hilfe eines Teils definiert. Probleme: keine! 91<br />
Aus Sicht der modernen Definitionstheorie schuldet MENON SOKRATES also nur noch eine<br />
Definition für Gerechtigkeit. Den Definitionsversuch schon allein deswegen für gescheitert<br />
zu erklären, weil Gerechtigkeit ein Teil der Tugend ist, ist aus der Sicht der<br />
Definitionstheorie unangemessen. 92<br />
Bei seinem Abzielen auf das Wesen denkt der platonische SOKRATES das Verhältnis von<br />
Teil und Ganzem als wesentlich komplizierter, als man dies heute in der modernen<br />
Wissenschaft tut. Letztere beschäftigt sich allerdings auch nicht mit dem Wesen der<br />
Dinge. Hier (im Dialog Menon) taugen diese zusätzlichen Anforderungen bzw.<br />
Verwicklungen noch, um in einem aporetischen Definitionsdialog zu triumphieren, aber an<br />
anderen Stellen von <strong>Platon</strong>s Werk eskaliert das Problem. Die Klärung des Verhältnisses<br />
von Teil und Ganzem erweist sich für den platonischen SOKRATES als echtes Problem.<br />
Einige von <strong>Platon</strong>s Ausführungen hierzu könnten gut dazu benutzt werden, um den Begriff<br />
90 Eine komplexwertige Funktion über einem Defintionsbereich (z.B. den reellen Zahlen) ist differenzierbar genau<br />
dann wenn ihr Real- wie ihr Imaginärteil jeweils eine differenzierbare reellwertige Funktion über demselben<br />
Definitionsbereich liefert.<br />
91 Ergänzend sei hier an das in der <strong>Mathematik</strong> gängige Verfahren der rekursiven Definition erinnert.<br />
92 <strong>Platon</strong> hätte dieser Punkt vielleicht sogar beeindruckt. Stammt doch das Beispiel mit den komplexwertigen Funktionen,<br />
ebenso wie das Konzept rekursiver Definitionen aus seiner geliebten <strong>Mathematik</strong>. Zeitgenössische Freunde<br />
seiner <strong>Philosophie</strong> können - nach aller Lebenserfahrung - durch solche Hinweise hingegen nicht irritiert werden.<br />
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