gen; den gegen seinen Willen beschlossenen Boykott der Moskauer Spiele hat er im Grunde nicht verschmerzen können. Auch nach dem Zusammenbruch der großen politischen Systeme in dieser Welt werde die friedensstiftende Kraft des olympischen Sports benötigt, vielleicht sogar dringlicher als zuvor, erklärte er. Er hat Recht behalten. Auch für Daume hat der Olympismus seinen Kern in der Idee der Ganzheit. Ganzheit ist einmal die individuelle Ganzheit von Kopf, Herz und Körper. Sie ist aber auch so etwas wie eine kulturelle Ganzheit, genauer: sportliche und olympische Athletik in Verbindung mit und als Teil der Kultur. Immer wieder hat Daume sich bemüht, diese Verbindung zu beschreiben und sie herzustellen. Auf einmalige Weise ist ihm dies bei den <strong>Olympische</strong>n Spielen in München in der Verbindung des Sports mit Kunst, Literatur, Musik, Tanz, Ballett und Wissenschaft, mit einer glanzvollen Architektur, mit städtischem Leben, improvisierenden Straßendarbietungen, massenhafter Kommunikation zwischen Bürgern, Besuchern und Athleten gelungen. Ein einmaliges Weltereignis, ein "Kulturfest" war München geworden - oder hätte dies werden sollen, Zeichen für den tiefen Menschheitswunsch - wie Daume sagte - nach Friedlichkeit und "Freisein von Lebensangst". Hätte München werden sollen und auch können - wenn nicht ein tödlicher Schlag die Stadt der Spiele getroffen hätte und schmerzhaft daran erinnerte, wie unfriedlich und gewalttätig diese Welt auch sein kann und wie zerbrechlich demgegenüber die Idee des Friedens, der im Olympismus und bei den Spielen manifest werden sollte. Trauer, Schmerz, Hilflosigkeit legten sich damals über viele Menschen in Deutschland und in der ganzen Welt. Seitdem sind die Spiele immer noch gewachsen, größer, teurer, aufwändiger, spektakulärer und weltumspannender geworden; aber immer auch noch beeindruckend in ihrer manchmal schlichten, unverstellten und unmittelbaren Menschlichkeit, in ihren universellen Gemeinsamkeiten, ihrer künstlerischen Ausdrucksstärke und symbolischen Kraft. Aber man benötigt inzwischen auch fast eine ganze Armee, zumeist zivil gekleidet, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Trotz allem: Der olympische Sport blieb für Daume eine der wenigen Möglichkeiten der symbolischen Darstellung der Idee des Friedens in der Welt. <strong>Olympische</strong> "Illusionen"? Welche Funktion kann das <strong>Olympische</strong> in dieser Welt haben, so lautete deshalb eine seiner zentralen Fragen, die er sich immer wieder stellte, die durch Gegensätze bestimmt ist, durch Gegensätze zwischen "Armen und Reichen, Privilegierten und Unterprivilegierten, Hungrigen und Satten, Farbigen und Weißen", durch Gegensätze zwischen "Resignation und Hoffnung, Frieden und Streit"? Seine Antwort: "Nur durch das Anstreben sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Verständigung, Abbau von Spannungen, Toleranz, Fairness", durch den Geist "kompromissloser Solidarität" mit den Zukurzgekommenen und Hilfebedürftigen. Nur unter diesen Voraussetzungen könne der Olympismus seine heute notwendige Veränderung erfahren - er nennt dies ihre "abendländische Entschränkung"- , die es ihm erlaubt, sowohl humanpolitische Funktionen zu übernehmen, als auch "Real-Utopie" zu sein: In einer noch immer "von Gewalt, Revanche, Terror und Revolte" bestimmten Welt "Demonstration gegen die Gewalt" und für das friedliche Zusammenleben der Völker - Olympismus also nicht als eine Art Heilsverkündigung, sondern als Ausdruck der Verständigung und der Möglichkeit des friedlichen Fortschritts. Aber es ist auch keine Frage, dass Daume mit solchen Aussagen an die Grenzen der Möglichkeiten des olympischen Sports und seiner Idee stößt, sie vermutlich sogar überschreitet. Das wusste er sehr wohl. Um so zu sprechen, benötigt man tiefergehende Quellen. An dieser Stelle wurde Daume zum friedensbewegten Weltbürger. Die Münchner Spiele waren ein Stück Realisierung seiner olympischen "Vision". Aber dies konnten sie nur einige Tage sein, so lange, bis eben die Realität der Gewalt, gegen die sie Zeichen hätten setzen sollen, auf brutale Weise in sie einbrach. Es gab "zehn wundervolle olympische Tage", schrieb Daume im NOK-Standardwerk über München. "Dann wurden wir aus dem Paradies schöner und liebenswerter Illusionen vertrieben, und niemals werden wir uns dorthin zurückziehen können." Waren dies alles nur Illusionen? Vermutlich nicht. Dazu war Daume zu sehr Realist. Wie Coubertin war er kein Freund von Utopien. Seine Vision eines besseren Sports in einer etwas besseren Welt bleibt. Sie hatte in München für Tage reale Gestalt gewonnen, dahinter kann man nun nicht mehr zurück, die Bilder sind da und bleiben im historischen Gedächtnis gegenwärtig, und sie zeigen auch immer wieder, welche Möglichkeiten der olympische Sport haben kann. Die <strong>Olympische</strong> Bewegung darf nicht "in sich selbst ruhen", sie muss "die Auseinandersetzung mit der Gegenwart" immer wieder suchen, schrieb Daume. Es könne etwas Verbindendes im Sport sein. Aber dazu sei es notwendig, den verbindenden Geist von Fairness, Kameradschaftlichkeit, Friedlichkeit und Internationalität auch öffentlich deutlich zu machen. Daume hat dieses Ziel nie aufgegeben. Seinen Realitätssinn hat er mit der Bereitschaft verbunden, neben dem Machbaren das Mögliche zu denken und es - wenn möglich - auch zu tun. Wenn nun die beiden zum DOSB "verschmolzenen" nationalen Sportorganisationen - NOK und DSB -, deren Präsident und Ehrenpräsident Daume war, die sich das Wort "olympisch" ausdrücklich in ihren neuen Namen geschrieben haben, wirklich zusammenwachsen sollen, dann ist es angebracht, sich auch an die wechselhafte Geschichte und Bedeutung von "olympisch" im deutschen Sport zu erinnern. OF 55
Adolf Cluss: Ein schwäbischdeutsch-amerkanischer Turner, Revolutionär und Architekt einer neuen Welt <strong>Von</strong> Michael Krüger 56