Von Steffen Haffner - Deutsche Olympische Gesellschaft
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Im August des Jahres 1846 wurde<br />
das erste deutsche (nicht schwäbische)<br />
Turnfest in Heilbronn abgehalten",<br />
schrieb Adolf Cluss in einem<br />
Brief vom 14. September 1904, in dem<br />
er, am Ende seines ereignisreichen<br />
Lebens stehend, "eine Episode aus<br />
meinen jungen Jahren" erzählte, die ihm<br />
sein Leben lang "im Gedächtnis" blieb.<br />
Wer war Adolf Cluss, was hat er mit<br />
dem Turnfest von 1846 zu tun und<br />
welche Bedeutung haben er und ein<br />
Turnfest vor fast 160 Jahren für den<br />
modernen, olympischen Sport?<br />
Adolf Cluss wurde am 14. Juli 1825 als<br />
Sohn einer Handwerkerfamilie in Heilbronn<br />
geboren, einer schwäbischen Stadt am Neckar, die<br />
vielen Schwaben und Nichtschwaben nicht zuletzt wegen des<br />
guten "Trollinger" bekannt ist. Den kennt und schätzt man<br />
auch im fernen Washington, der Hauptstadt der Vereinigten<br />
Staaten. Hierher hat es Adolf Cluss im Jahr 1848 verschlagen,<br />
nachdem er aus Deutschland ausgewandert ist. Und in<br />
Washington hat er schließlich Karriere gemacht: Er galt als<br />
"Architekt Washingtons". Zahlreiche öffentliche Gebäude der<br />
Ende des 19. Jahrhunderts aufstrebenden Bundeshauptstadt<br />
wurden von ihm entworfen und gebaut: Kirchen, Regierungsgebäude,<br />
Stadthallen und Märkte, Museen, militärische<br />
Einrichtungen, Kultur- und Kongresshallen, Schulen, Colleges<br />
und Universitäten. Die meisten Gebäude mussten im 20.<br />
Jahrhundert der stürmischen architektonischen Modernisierung<br />
Washingtons weichen, aber einige stehen noch heute.<br />
Das eindrucksvollste ist das renovierte Nationalmuseum<br />
Washingtons, das Cluss von 1879 bis 1881 erbaute. Es ist<br />
ebenso wie seine anderen Bauwerke nicht nur Zeichen der<br />
Kreativität, Schaffenskraft und des persönlichen Ansehens<br />
von Adolf Cluss in der Washingtoner <strong>Gesellschaft</strong>, sondern<br />
auch steinerner Zeuge der Kulturleistungen einer ganzen<br />
Generation von deutschen Auswanderern. Für diesen Kulturtransfer<br />
vom "alten Europa" in die Neue Welt stehen besonders<br />
die jungen Menschen, in der Regel Handwerker und<br />
Arbeiter, die ihr Vaterland im Zuge der Revolution von<br />
1848/1849 verlassen mussten.<br />
Zur Erinnerung an sie fanden von Oktober 2005 bis Februar<br />
2006 zeitgleich Ausstellungen in Heilbronn und Washington<br />
statt, in deren Mittelpunkt Adolf Cluss stand. Mit Unterstützung<br />
des Transatlantischen Programms der Bundesrepublik<br />
Deutschland, des <strong>Deutsche</strong>n Historischen Instituts in<br />
Washington und nicht zuletzt der Stadt Heilbronn und des<br />
Stadtarchivs konnte in deutscher und englischer Sprache ein<br />
Band zu Adolf Cluss mit dem Titel "Revolutionär und Architekt.<br />
<strong>Von</strong> Heilbronn nach Washington" veröffentlicht werden.<br />
Außerdem fanden Tagungen und Kongresse statt. Ein Sympo-<br />
sium in Heilbronn, das in Zusammenarbeit<br />
mit dem Institut für<br />
Sportgeschichte Baden-Württemberg<br />
e.V. durchgeführt wurde, widmete sich<br />
speziell dem Turnfest von 1846 - einem<br />
Ereignis, das für Adolf Cluss und viele<br />
Auswanderer in der fernen, neuen<br />
Heimat Lebensprägend war.<br />
Die meisten dieser deutschen Auswanderer<br />
der Zeit um die Revolution von<br />
1848/49 waren Turner und Revolutionäre.<br />
Cluss selbst gehörte als junger,<br />
knapp 20jähriger Mann zum radikalen,<br />
frühsozialistischen Flügel der Turnbewegung.<br />
1844 ging Cluss, wie das<br />
damals bei Handwerkern üblich war,<br />
auf Wanderschaft. In Mainz bekam er 1846 eine Anstellung<br />
bei einer der ersten Eisenbahngesellschaften in Deutschland,<br />
der Hessischen Ludwigsbahn. Gleichzeitig schloss er sich dem<br />
Mainzer Turnverein an. Im Sommer 1846 wanderte er mit<br />
seinen Mainzer Turnbrüdern zu dem besagten legendären<br />
Turnfest nach Heilbronn, wo die ganze "Sippschaft", wie er<br />
schrieb, im Haus seiner Eltern einquartiert wurde.<br />
Nach dem Turnfest wurde Cluss zum Sekretär des neu<br />
gegründeten Mainzer Arbeiterbildungsvereins gewählt. 1847<br />
schloss er sich dem "Bund der Kommunisten" mit Sitz in<br />
Brüssel an, über den er intensiven Kontakt mit Karl Marx und<br />
Friedrich Engels pflegte. Nach seiner Auswanderung in die<br />
USA stand er bis weit in die 1850er Jahre regelmäßig mit Karl<br />
Marx in brieflichem Kontakt. Marx hielt große Stücke auf<br />
seinen jungen Freund und betrachtete ihn als seinen wichtigsten<br />
"Agenten" in der neuen Welt. Umso enttäuschter und<br />
verärgert war er über Cluss, als dieser von seinen kommunistischen<br />
Visionen abließ, sich statt dessen dem wirklichen<br />
Leben in Washington zuwandte und zu einem der angesehensten<br />
Bürger der neuen Hauptstadt der USA aufstieg. Sein<br />
bürgerschaftlich-soziales Engagement hat er jedoch beibehalten.<br />
Cluss war in zahlreichen Vereinen der Hauptstadt<br />
aktiv, natürlich auch bei den Turnern, und er arbeitete unermüdlich<br />
für das Wohl der Bürger der Hauptstadt.<br />
Turnen und Turnfeste als Mittelpunkte<br />
bürgerlicher Lebensform<br />
Das Turnfest in Heilbronn bildete sicher nur einen kleinen Teil<br />
des riesigen Erfahrungshorizonts ab, aus dem Cluss für sein<br />
späteres Leben schöpfte. Aber es war mehr als nur ein Turnfest.<br />
Es stand für eine grundlegende Auffassung und Idee<br />
vom Leben, von der Rolle, die der Einzelne in <strong>Gesellschaft</strong>,<br />
Politik und Kultur spielen sollte, und von der grundsätzlichen<br />
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