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Von Steffen Haffner - Deutsche Olympische Gesellschaft

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Öffentlichkeit und in den Turnvereinen groß. Auch Freunde<br />

des Turnens wandten sich "schaudernd" ab, wie es nun hieß.<br />

Die Spaltung in radikale und gemäßigte Kräfte der Turnerei<br />

war nun endgültig. Die Turnvereine galten aus der Sicht der<br />

Regierungen als gefährliche Herde der Revolution und des<br />

Aufruhrs. Alle Versuche eines nationalen Zusammenschlusses<br />

der Turnvereine scheiterten.<br />

Dies gelang erst nach langen Jahren der politischen Reaktion<br />

beim diesmal wirklich ersten allgemeinen deutschen Turnund<br />

Jugendfest 1860 in Coburg. Die 1848er-Aktivisten waren<br />

nun fast 15 Jahre älter und besonnener geworden, die radikalsten<br />

Vertreter der politischen Turnerei waren ausgewandert,<br />

und in Coburg konnte nun die Turnkultur "neu aufgestellt"<br />

werden, wie man heute sagen würde; d.h., dort wurden<br />

die Grundlagen für ein neues Selbstverständnis und eine<br />

stabile Organisation geschaffen. Vieles von dem, was schon in<br />

Heilbronn zu erkennen war, konnte sich jetzt entfalten: eine<br />

Kultur des Turnens und der Turnvereine, die ihren Mittelpunkt<br />

in der Pflege und Entwicklung einer volks- und nationalerzieherischen<br />

Körper- und Bewegungskultur findet und nicht in<br />

revolutionärer, oppositioneller Politik. Dieser Prozess der<br />

Entpolitisierung und Zivilisierung des Turnens, z.T. mit dem<br />

neuen Namen "Sport", ist bis heute im Gange.<br />

Bis heute versteht sich der Dachverband des deutschen<br />

Sports als gesellschaftliche Kraft, die mehr ist und sein will<br />

als nur ein Sportverband. Er sieht sich auch als eine Organisation,<br />

die das Wohl der Bürger insgesamt im Blick hat, die sich<br />

für Bildung und Erziehung der jungen Menschen einsetzt und<br />

sich für die freie Entfaltung der Kräfte und Möglichkeiten der<br />

Bürgerinnen und Bürger einsetzt. Insofern steht auch der<br />

moderne Sport in der Tradition der 1848er Turner; auch von<br />

denen, die nach Amerika auswandern mussten.<br />

Brücke in die neue Welt<br />

Der Traum von einer freieren, besseren und gerechteren<br />

<strong>Gesellschaft</strong> blieb lebendig. Viele Turner, die<br />

nach Amerika auswandern mussten, nutzten später<br />

ihre Erfahrungen aus dem deutschen Turnvereinsleben<br />

in der neuen Welt. Mit zu den ersten Dingen,<br />

die sie nach ihrer Ankunft in Amerika unternahmen,<br />

zählte die Gründung von Turnvereinen. Der<br />

berühmte Sohn Heilbronns, Adolf Cluss, gehörte<br />

ebenfalls zu denen, die ihren Traum von bürgerlicher<br />

Freiheit und bürgerlichem Engagement in den<br />

Vereinigten Staaten umsetzten. Als Architekt der<br />

Hauptstadt und angesehener Bürger Washingtons<br />

stand er in der ersten Reihe der deutschen Einwanderer<br />

in den USA. Das alte deutsche Turnen<br />

baute so gesehen eine Brücke zwischen dem "alten<br />

Europa" und der neuen Welt, über die viele Men-<br />

schen gingen, die ihre Heimat verlassen mussten und eine<br />

bessere Zukunft in Amerika suchten.<br />

Vieles von dem, was beim Turnfest in Heilbronn - stellvertretend<br />

für die Turnvereins- und Turnfestkultur insgesamt -<br />

vorgeturnt und vorgelebt wurde, fand unbeabsichtigt, aber<br />

trotzdem nicht ohne innere Logik, eine Fortsetzung im olympischen<br />

Sport und bei den <strong>Olympische</strong>n Spielen unserer Tage.<br />

Es war kein Zufall, dass Gustav Struve, der radikale Anführer<br />

der badischen Revolution von 1848/49 und nach seiner<br />

Flucht in die USA Gründer des New Yorker Turnvereins, 1855<br />

im "Belletristischen Journal" der "New Yorker Criminalzeitung"<br />

und in der Amerikanischen Turnzeitung dazu aufrief,<br />

Turnfeste nach dem Vorbild der <strong>Olympische</strong>n Spiele in der<br />

Antike abzuhalten; eine Idee, die im Übrigen so verbreitet<br />

war, dass sie Eingang in das Meyersche Conversationslexikon<br />

der Ausgabe des Jahres 1848 fand: Turn- und Gesangsfeste<br />

hätten das Ziel, hieß es da, "ächte deutsche Volksfeste zu<br />

werden, ähnlich den <strong>Olympische</strong>n Spielen der Griechen. Wie<br />

diesen liegt ihnen zunächst der Zweck ob, die durch politische<br />

Grenzen getrennten deutschen Stämme durch das Band<br />

der Kunst zu vereinigen".<br />

150 Jahre später haben die <strong>Olympische</strong>n Spiele den Zweck,<br />

die durch politische, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen<br />

getrennten Völker und Nationen auf der ganzen Welt durch<br />

den Sport und die Kultur zusammen zu führen, wenn man<br />

will im friedlichen Wettstreit zu "vereinigen". Der Wettkampf<br />

ist das "Band der Kunst" des Sports, durch das dieses Kunststück<br />

der internationalen kulturellen Kommunikation und<br />

Integration ermöglicht wird. Wie damals sind auch heute<br />

Menschen und Athleten gefragt, die sich dem Wettbewerb<br />

stellen, die Brücken schlagen können, wie Adolf Cluss und die<br />

ausgewanderten Turner, und die sich für eine bessere, friedlichere<br />

und fortschrittliche Welt einsetzen.<br />

OF<br />

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