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Von Steffen Haffner - Deutsche Olympische Gesellschaft

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Beziehung des Staates zu seinen Bürgern. Auch dies bedeutete<br />

in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff "Turnen".<br />

Auf den Turnfesten kam am markantesten zum Ausdruck, was<br />

"Turnen" damals bedeutete, wie dieses Turnen praktisch<br />

aussah, welche Inhalte, welche Turn- und Umgangsformen<br />

diese spezifische Körper- und Bewegungskultur prägten, und<br />

welche ideellen, geistigen und politischen Kräfte dieses<br />

Turnen bewegten. Das prägendste Turnfest vor der Revolution<br />

von 1848 fand 1846 in Heilbronn statt; auch wenn es in<br />

vielerlei Hinsicht nicht ganz die Erwartungen erfüllte. Der<br />

Historiker Dieter Düding spricht sogar von einem<br />

"Fehlschlag", weil es nicht gelungen sei, das wichtigste politische<br />

Ziel dieses vormärzlichen Turnertreffens zu erreichen,<br />

nämlich ein wirklich "nationales" Turnfest auszurichten, von<br />

dem dann auch der nationale Zusammenschluss der Turner<br />

hätte ausgehen können. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.<br />

Heilbronn war ein Erfolg, weil sich hier zum ersten Mal und<br />

unter Beteiligung und Anteilnahme weiter Kreise der Bevölkerung<br />

die Kultur des Turnens und des Sports im Sinne einer<br />

breiten bürgerschaftlichen Bewegung artikulierte.<br />

Das Fest-Album zur Erinnerung an das Turnfest in Heilbronn,<br />

herausgegeben von der Heilbronner Turngemeinde und ihrem<br />

Sprecher Rudolf Flaigg, den man den "schwäbischen Frühsozialisten"<br />

zurechnen kann, um eine Formuliereung des Landeshistorikers<br />

Otto Borst aufzugreifen, liefert eine anschauliche<br />

Vorstellung von der turnerischen Vereinskultur der<br />

1840er Jahre, sowohl in ihrer politisch-gesellschaftlichen als<br />

auch körperkulturellen Ausprägung.<br />

Freies Turnen als Symbol der Freiheit<br />

des Geistes<br />

Bemerkenswert bereits an den ersten Zeilen dieses Festberichts<br />

von Heilbronn ist die enge Verbindung, die zwischen<br />

dem freien turnerischen Bewegen an den Geräten und an der<br />

frischen Luft, den "Kraftäußerungen" des Leibes und der<br />

Freiheit des Geistes, der Rede und des Wortes hergestellt<br />

wird. Das aktive, freie Turnen an den Turngeräten ist Ausdruck<br />

und Symbol dieser allgemeinen Freiheit, und es ist ein<br />

Teil dieser Freiheit des Bürgers selbst. Aus dieser Sicht wird<br />

verständlich, warum beides seinen Platz bei diesen frühen<br />

Turnfesten fand, das Turnen und sogar Preisturnen, und das<br />

Reden und Singen, das Debattieren und Dichten. Der wesentliche<br />

Inhalt dieser neuen Freiheit und Kraftäußerung bestand<br />

in dem Willen und der Möglichkeit, sich frei und ohne Unterschied<br />

des Alters und des Standes zu treffen, seine Kräfte zu<br />

entfalten, miteinander zu messen und füreinander einzutreten.<br />

35 Vereine aus ganz Deutschland hatten Vertreter nach<br />

Heilbronn entsandt, die insgesamt ca. 3.400 Mitglieder in den<br />

Turnvereinen repräsentierten, vom kleinsten Verein, Geislin-<br />

58<br />

gen mit 15 Mitgliedern, bis zur größten Turngemeinde, Dresden<br />

mit ca. 900 Mitgliedern.<br />

Aus der Beschreibung des Turnfestes von Heilbronn geht<br />

hervor, wie vielfältig die Turnvereinskultur damals war. Diese<br />

Turnvereine waren weder "nur" politische Vereine, noch waren<br />

es nur Vereine zur Pflege körperlicher Übungen. Sie waren<br />

auch Geselligkeitsvereine, Männervereine, Handwerksvereine,<br />

Bürgervereine, Vereine zur Entfaltung bürgerlicher Tugenden<br />

und Wertvorstellungen, Vereine zur Vermittlung historischen<br />

und politischen Wissens, Vereine zur Pflege deutscher Lieder<br />

und Gesänge, Sozial- und Hilfsvereine, Vereine zur Verbreitung<br />

vaterländischer Gesinnungen, Vereine zur Bildung und<br />

Erziehung im weitesten Sinne usw.<br />

Turnvereine und Zivilgesellschaft<br />

Die Turnvereine geben Beispiele ab für das, was heute als<br />

"Zivilgesellschaft" bezeichnet wird; eine Bürgerbewegung, die<br />

sich frei und unabhängig vom Staat organisiert und engagiert<br />

und öffentliche Aufgaben im bürgerschaftlichen Interesse<br />

wahrnimmt. Die Unterschiede der politischen, sozialen und<br />

kulturellen Orientierung der einzelnen Vereine waren neben<br />

den politischen Rahmenbedingungen der wesentliche Grund,<br />

warum es bis zur 1848er Revolution nicht zu einem Zusammenschluss<br />

aller Turnvereine in Deutschland kam, bzw.<br />

warum die Versuche einer nationalen Einigung der Turner<br />

scheiterten. <strong>Von</strong> ausschlaggebender Bedeutung für dieses<br />

Scheitern waren die revolutionär aufgeheizte Situation im<br />

Jahr 1848 sowie die Unterdrückungs- und Verbotsmaßnahmen<br />

der verantwortlichen Regierungen im <strong>Deutsche</strong>n Bund<br />

vor und nach der Revolution, die viele der jungen und engagierten<br />

Turner in die Emigration trieb.<br />

Viele Turnvereine, in Mannheim, Köln und Heidelberg, wurden<br />

aufgelöst und verboten, hatten sich dann wiedergegründet,<br />

waren erneut beobachtet und bespitzelt worden usw. Es kam<br />

zu einer politischen Radikalisierung in einigen Turnvereinen.<br />

Viele riefen zur allgemeinen Bewaffnung auf und hielten die<br />

Turner, weil sie körperlich besonders geschult und kräftig<br />

seien, für die natürliche Vorhut der nun mit Waffen kämpfenden<br />

Revolution. Obwohl sich die Mehrheit der Vereine<br />

zurückhielt, schlossen sich doch viele Turner den Bürgerwehren<br />

an und wollten nun mit der Waffe in der Hand für Freiheit<br />

und Vaterland kämpfen.<br />

Radikalisierung des Turnens<br />

Als bekannt wurde, dass bei der Ermordung des Fürsten<br />

Lichnowski, eines konservativen Abgeordneten der Frankfurter<br />

Nationalversammlung, auch Männer mit Turnerhut und<br />

Turnerjacke gesehen wurden, war die Empörung in der

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