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Kultur<br />
»Europa ist futsch«<br />
SPIEGEL-Gespräch Die Wiederkehr des Verdrängten ist schon da: <strong>Der</strong> französische Soziologe<br />
Emmanuel Todd sieht einen Rückzug der europäischen Gesellschaften<br />
auf sich selbst voraus und kritisiert die deutsch-französische Selbstüberschätzung.<br />
Todd, 67, arbeitete als Sozialwissenschaftler<br />
und Historiker am Nationalen Institut für<br />
demografische Studien in Paris. In zahlreichen<br />
Büchern beschäftigte er sich mit der<br />
sozialen Frage, dem Schicksal der Migranten,<br />
dem ökonomischen Rückstand der islamischen<br />
Welt sowie der Zukunft Europas<br />
und der USA. In seinem neuen Werk »Traurige<br />
Moderne« entwirft er eine Geschichte<br />
der Menschheit anhand der Evolution von<br />
Familiensystemen, die ihm zufolge über<br />
Dynamik oder Stillstand von Kulturen entscheiden*.<br />
Mit seinen Thesen provoziert<br />
Todd, der sich selbst der linksliberalen Mitte<br />
zuordnet und mit scharfer Kritik an den<br />
französischen Eliten hervortrat, immer wieder<br />
polemische Debatten.<br />
SPIEGEL: Monsieur Todd, 1976 sagten Sie<br />
in Ihrem Buch »Vor dem Sturz« aufgrund<br />
demografischer und sozialer Analysen das<br />
Ende der Sowjetherrschaft voraus. Die<br />
damals gewagte Prognose machte Sie mit<br />
einem Schlag international bekannt. Prophezeien<br />
Sie heute die Auflösung der<br />
Europäischen Union?<br />
Todd: Europa befindet sich in einem beklagenswerten<br />
Zustand: zerrissen, gespalten,<br />
unglücklich. Seine Führungseliten sind<br />
von einem Gefühl der Ohnmacht ergriffen.<br />
Was wir jetzt erleben, stimmt mich sehr<br />
traurig. Aber es überrascht mich überhaupt<br />
nicht. Es war vorhersehbar. Mehr<br />
noch: Es musste so kommen.<br />
SPIEGEL: Wieso denn? Nach dem Kalten<br />
Krieg und der Spaltung Europas schien die<br />
immer größer und attraktiver werdende<br />
EU über lange Zeit unaufhaltsam zusammenzuwachsen,<br />
bis hin zu einer vollständigen<br />
politischen Union.<br />
Todd: Ich nehme mir eine anthropologische<br />
Betrachtungsweise der Geschichte<br />
vor. Ein gewisses Maß an Zusammenarbeit<br />
der europäischen Nationen zu institutionalisieren<br />
war ein ehrgeiziges und zugleich<br />
vernünftiges Ziel. Aber als Spezialist der<br />
Familienstrukturen und damit der Sittensysteme,<br />
der Lebensweisen, habe ich mich<br />
nie der romantischen Idee verschrieben,<br />
* Emmanuel Todd: »Traurige Moderne. Eine Geschichte<br />
der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo<br />
americanus«. Aus dem Französischen von Werner<br />
Damson und Enrico Heinemann. C. H. Beck; 542 Seiten;<br />
29,95 Euro.<br />
dass die Europäer allesamt kulturell gleich<br />
seien und Europa ein homogener Raum<br />
werden könne. Die EU ist dabei, ein Opfer<br />
ihrer eigenen Sakralisierung zu werden<br />
und sich maßlos zu überschätzen.<br />
SPIEGEL: Wo und wann stellen Sie den<br />
Bruch fest?<br />
Todd: Eigentlich schon seit 1992, seitdem<br />
das Projekt der Währungsunion Gestalt<br />
annahm und die Vorstellung sich durchsetzte,<br />
den Kontinent über die Währung<br />
endgültig zu vereinen. Da sagte ich mir,<br />
Europa ist futsch. Denn von da an stand<br />
die europäische Metaphysik im Gegensatz<br />
zur Wirklichkeit der Welt.<br />
SPIEGEL: Einwände gegen den Euro gab<br />
es von Anfang an mehr als genug. Sie kamen<br />
vor allem von Technokraten und<br />
Ökonomen.<br />
Todd: Ich glaube, sie zielten am Wesent -<br />
lichen vorbei – obwohl sie nicht unrecht<br />
hatten. <strong>Der</strong> Lauf der Geschichte lässt sich<br />
entgegen marxistischen Annahmen nicht<br />
auf die wirtschaftliche Entwicklung reduzieren.<br />
Bestimmte entscheidende Ver -<br />
änderungen vollziehen sich in tieferen<br />
Schichten des sozialen Lebens. Europa<br />
läuft Gefahr, sich wieder in seine Einzelteile<br />
zu zerlegen, weil die Politik und die<br />
politische Ökonomie als ihre vorherrschende<br />
Ideologie die Unterschiedlichkeit des<br />
Kontinents nicht angemessen berücksichtigen<br />
wollten. Den Franzosen sagte man,<br />
ihr sollt sein wie die Deutschen. Das können<br />
sie aber nicht, sogar wenn sie es wollten.<br />
Den Deutschen bestritt man das<br />
Recht, deutsch zu sein. Man leugnete, dass<br />
Deutschland effizienter arbeitet als Frankreich<br />
und zu beachtlichen kollektiven Anstrengungen<br />
fähig ist. Man verdrängte zugleich,<br />
dass in Deutschland viel weniger<br />
Kinder geboren werden. Solche und ähnliche<br />
Besonderheiten lassen sich für praktisch<br />
alle Länder feststellen. Die europäische<br />
Ideologie obsiegte über die Empirie.<br />
Die EU machte sich auf den Weg in die<br />
Sackgasse der Realitätsverweigerung.<br />
SPIEGEL: In Paris wie in Berlin lautet das<br />
Mantra gegen die Krise: mehr Europa,<br />
mehr Vergemeinschaftung, mehr Mut zum<br />
Aufbruch. Was schlagen Sie vor?<br />
Todd: Es ist nicht möglich, das Unbehagen<br />
auf dem europäischen Kontinent zu verstehen,<br />
wenn wir in den zwei wichtigsten<br />
Prinzipien gefangen bleiben, die am Beginn<br />
des europäischen Aufbauprozesses<br />
standen: dem Glauben an den Vorrang der<br />
vermeintlich alles bestimmenden Ökonomie<br />
und der Hypothese einer gemeinsamen<br />
Entwicklung der Nationen in Richtung<br />
einer einheitlichen Konsumgesellschaft.<br />
In einer Welt, in der die Wirtschaft<br />
der Motor der Geschichte gewesen wäre<br />
und die Länder sich mit ihrer Wirtschaftsleistung<br />
<strong>vom</strong> <strong>No</strong>rden nach Süden und <strong>vom</strong><br />
Westen bis in den Osten des Kontinents<br />
angeglichen hätten, wäre das Projekt erfolgreich<br />
gewesen. Unsere Welt ist aber<br />
anders.<br />
SPIEGEL: Es war doch auch jahrzehntelang<br />
erfolgreich, die Angleichung der Lebensverhältnisse<br />
schritt voran. Warum hielt die<br />
politische und kulturelle Anpassung nicht<br />
mit?<br />
Todd: Die Konvergenztheorie funktionierte<br />
so lange, wie zuerst Westeuropa den<br />
ökonomischen Rückstand auf die USA<br />
überbrückte und dann Osteuropa zum<br />
Westen aufzuschließen hoffte. Inzwischen<br />
hat sich der Trend umgekehrt. <strong>Der</strong> Marsch<br />
in Richtung Ungleichheit setzt sich wieder<br />
fort, getrieben von der Doktrin des Freihandels<br />
und der Globalisierung. Freihandel<br />
schafft eben nicht automatisch mehr<br />
Wohlstand für alle, sondern zwingt die Industrienationen<br />
in einen unerbittlichen<br />
Konkurrenzkampf, der am Ende in einen<br />
Wirtschafts- und Handelskrieg führt, wie<br />
wir jetzt erfahren müssen. In Europa verschärft<br />
die Währungsunion die Folgen des<br />
Freihandels noch einmal auf dramatische<br />
Weise: Alle müssen an demselben Rennen<br />
teilnehmen, aber mit unterschiedlichen<br />
Handicaps.<br />
SPIEGEL: Für Deutschland ist der Fort -<br />
bestand der Europäischen Union längst<br />
Staatsräson geworden. Kein deutscher<br />
Politiker will sich nachsagen lassen, ein<br />
europäischer Störenfried zu sein.<br />
Todd: Das bestreite ich nicht. Mir wurde<br />
oft vorgeworfen, deutschfeindlich zu sein.<br />
Das bin ich nicht. Im Gegenteil, ich bewundere<br />
vieles an Deutschland. Aber was<br />
wir in Europa brauchen, ist ein klarsichtiges<br />
Deutschland, das sich seiner Rolle bewusst<br />
ist. Für die kafkaeske Verwandlung<br />
der EU ist Deutschland nicht allein verantwortlich.<br />
Doch die ihm eigene Schwerkraft<br />
112 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>