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Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

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Kultur<br />

»Europa ist futsch«<br />

SPIEGEL-Gespräch Die Wiederkehr des Verdrängten ist schon da: <strong>Der</strong> französische Soziologe<br />

Emmanuel Todd sieht einen Rückzug der europäischen Gesellschaften<br />

auf sich selbst voraus und kritisiert die deutsch-französische Selbstüberschätzung.<br />

Todd, 67, arbeitete als Sozialwissenschaftler<br />

und Historiker am Nationalen Institut für<br />

demografische Studien in Paris. In zahlreichen<br />

Büchern beschäftigte er sich mit der<br />

sozialen Frage, dem Schicksal der Migranten,<br />

dem ökonomischen Rückstand der islamischen<br />

Welt sowie der Zukunft Europas<br />

und der USA. In seinem neuen Werk »Traurige<br />

Moderne« entwirft er eine Geschichte<br />

der Menschheit anhand der Evolution von<br />

Familiensystemen, die ihm zufolge über<br />

Dynamik oder Stillstand von Kulturen entscheiden*.<br />

Mit seinen Thesen provoziert<br />

Todd, der sich selbst der linksliberalen Mitte<br />

zuordnet und mit scharfer Kritik an den<br />

französischen Eliten hervortrat, immer wieder<br />

polemische Debatten.<br />

SPIEGEL: Monsieur Todd, 1976 sagten Sie<br />

in Ihrem Buch »Vor dem Sturz« aufgrund<br />

demografischer und sozialer Analysen das<br />

Ende der Sowjetherrschaft voraus. Die<br />

damals gewagte Prognose machte Sie mit<br />

einem Schlag international bekannt. Prophezeien<br />

Sie heute die Auflösung der<br />

Europäischen Union?<br />

Todd: Europa befindet sich in einem beklagenswerten<br />

Zustand: zerrissen, gespalten,<br />

unglücklich. Seine Führungseliten sind<br />

von einem Gefühl der Ohnmacht ergriffen.<br />

Was wir jetzt erleben, stimmt mich sehr<br />

traurig. Aber es überrascht mich überhaupt<br />

nicht. Es war vorhersehbar. Mehr<br />

noch: Es musste so kommen.<br />

SPIEGEL: Wieso denn? Nach dem Kalten<br />

Krieg und der Spaltung Europas schien die<br />

immer größer und attraktiver werdende<br />

EU über lange Zeit unaufhaltsam zusammenzuwachsen,<br />

bis hin zu einer vollständigen<br />

politischen Union.<br />

Todd: Ich nehme mir eine anthropologische<br />

Betrachtungsweise der Geschichte<br />

vor. Ein gewisses Maß an Zusammenarbeit<br />

der europäischen Nationen zu institutionalisieren<br />

war ein ehrgeiziges und zugleich<br />

vernünftiges Ziel. Aber als Spezialist der<br />

Familienstrukturen und damit der Sittensysteme,<br />

der Lebensweisen, habe ich mich<br />

nie der romantischen Idee verschrieben,<br />

* Emmanuel Todd: »Traurige Moderne. Eine Geschichte<br />

der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo<br />

americanus«. Aus dem Französischen von Werner<br />

Damson und Enrico Heinemann. C. H. Beck; 542 Seiten;<br />

29,95 Euro.<br />

dass die Europäer allesamt kulturell gleich<br />

seien und Europa ein homogener Raum<br />

werden könne. Die EU ist dabei, ein Opfer<br />

ihrer eigenen Sakralisierung zu werden<br />

und sich maßlos zu überschätzen.<br />

SPIEGEL: Wo und wann stellen Sie den<br />

Bruch fest?<br />

Todd: Eigentlich schon seit 1992, seitdem<br />

das Projekt der Währungsunion Gestalt<br />

annahm und die Vorstellung sich durchsetzte,<br />

den Kontinent über die Währung<br />

endgültig zu vereinen. Da sagte ich mir,<br />

Europa ist futsch. Denn von da an stand<br />

die europäische Metaphysik im Gegensatz<br />

zur Wirklichkeit der Welt.<br />

SPIEGEL: Einwände gegen den Euro gab<br />

es von Anfang an mehr als genug. Sie kamen<br />

vor allem von Technokraten und<br />

Ökonomen.<br />

Todd: Ich glaube, sie zielten am Wesent -<br />

lichen vorbei – obwohl sie nicht unrecht<br />

hatten. <strong>Der</strong> Lauf der Geschichte lässt sich<br />

entgegen marxistischen Annahmen nicht<br />

auf die wirtschaftliche Entwicklung reduzieren.<br />

Bestimmte entscheidende Ver -<br />

änderungen vollziehen sich in tieferen<br />

Schichten des sozialen Lebens. Europa<br />

läuft Gefahr, sich wieder in seine Einzelteile<br />

zu zerlegen, weil die Politik und die<br />

politische Ökonomie als ihre vorherrschende<br />

Ideologie die Unterschiedlichkeit des<br />

Kontinents nicht angemessen berücksichtigen<br />

wollten. Den Franzosen sagte man,<br />

ihr sollt sein wie die Deutschen. Das können<br />

sie aber nicht, sogar wenn sie es wollten.<br />

Den Deutschen bestritt man das<br />

Recht, deutsch zu sein. Man leugnete, dass<br />

Deutschland effizienter arbeitet als Frankreich<br />

und zu beachtlichen kollektiven Anstrengungen<br />

fähig ist. Man verdrängte zugleich,<br />

dass in Deutschland viel weniger<br />

Kinder geboren werden. Solche und ähnliche<br />

Besonderheiten lassen sich für praktisch<br />

alle Länder feststellen. Die europäische<br />

Ideologie obsiegte über die Empirie.<br />

Die EU machte sich auf den Weg in die<br />

Sackgasse der Realitätsverweigerung.<br />

SPIEGEL: In Paris wie in Berlin lautet das<br />

Mantra gegen die Krise: mehr Europa,<br />

mehr Vergemeinschaftung, mehr Mut zum<br />

Aufbruch. Was schlagen Sie vor?<br />

Todd: Es ist nicht möglich, das Unbehagen<br />

auf dem europäischen Kontinent zu verstehen,<br />

wenn wir in den zwei wichtigsten<br />

Prinzipien gefangen bleiben, die am Beginn<br />

des europäischen Aufbauprozesses<br />

standen: dem Glauben an den Vorrang der<br />

vermeintlich alles bestimmenden Ökonomie<br />

und der Hypothese einer gemeinsamen<br />

Entwicklung der Nationen in Richtung<br />

einer einheitlichen Konsumgesellschaft.<br />

In einer Welt, in der die Wirtschaft<br />

der Motor der Geschichte gewesen wäre<br />

und die Länder sich mit ihrer Wirtschaftsleistung<br />

<strong>vom</strong> <strong>No</strong>rden nach Süden und <strong>vom</strong><br />

Westen bis in den Osten des Kontinents<br />

angeglichen hätten, wäre das Projekt erfolgreich<br />

gewesen. Unsere Welt ist aber<br />

anders.<br />

SPIEGEL: Es war doch auch jahrzehntelang<br />

erfolgreich, die Angleichung der Lebensverhältnisse<br />

schritt voran. Warum hielt die<br />

politische und kulturelle Anpassung nicht<br />

mit?<br />

Todd: Die Konvergenztheorie funktionierte<br />

so lange, wie zuerst Westeuropa den<br />

ökonomischen Rückstand auf die USA<br />

überbrückte und dann Osteuropa zum<br />

Westen aufzuschließen hoffte. Inzwischen<br />

hat sich der Trend umgekehrt. <strong>Der</strong> Marsch<br />

in Richtung Ungleichheit setzt sich wieder<br />

fort, getrieben von der Doktrin des Freihandels<br />

und der Globalisierung. Freihandel<br />

schafft eben nicht automatisch mehr<br />

Wohlstand für alle, sondern zwingt die Industrienationen<br />

in einen unerbittlichen<br />

Konkurrenzkampf, der am Ende in einen<br />

Wirtschafts- und Handelskrieg führt, wie<br />

wir jetzt erfahren müssen. In Europa verschärft<br />

die Währungsunion die Folgen des<br />

Freihandels noch einmal auf dramatische<br />

Weise: Alle müssen an demselben Rennen<br />

teilnehmen, aber mit unterschiedlichen<br />

Handicaps.<br />

SPIEGEL: Für Deutschland ist der Fort -<br />

bestand der Europäischen Union längst<br />

Staatsräson geworden. Kein deutscher<br />

Politiker will sich nachsagen lassen, ein<br />

europäischer Störenfried zu sein.<br />

Todd: Das bestreite ich nicht. Mir wurde<br />

oft vorgeworfen, deutschfeindlich zu sein.<br />

Das bin ich nicht. Im Gegenteil, ich bewundere<br />

vieles an Deutschland. Aber was<br />

wir in Europa brauchen, ist ein klarsichtiges<br />

Deutschland, das sich seiner Rolle bewusst<br />

ist. Für die kafkaeske Verwandlung<br />

der EU ist Deutschland nicht allein verantwortlich.<br />

Doch die ihm eigene Schwerkraft<br />

112 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>

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