11.08.2018 Aufrufe

Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Sport<br />

rung ausgerufen werden, er hat sich an den<br />

Bierbänken verquatscht; Spitzensport im<br />

Gewand von Bundesjugendspielen.<br />

Das andere Ende der Skala soll sich<br />

nächste Woche in Berlin zeigen, Olympiastadion,<br />

große Bühne. Über 250 000 Karten<br />

sind verkauft, rund 2000 Journalisten<br />

werden vor Ort sein, Fanmeile auf dem<br />

Breitscheidplatz. Ein kleines Mittsommermärchen<br />

erhoffen sich die Veranstalter,<br />

wie 2009, als die Weltmeisterschaft in der<br />

Hauptstadt ausgetragen wurde, Robert<br />

Harting sich den Diskustitel erwarf, sein<br />

Trikot zerriss, Blitzlichtgewitter. Leichtathletik<br />

als Event, perfekt inszeniert.<br />

Ein breites Spektrum. Lückenkemper<br />

hat damit kein Problem. Sie kann beide<br />

Bühnen bespielen, vielleicht besser als all<br />

ihre Kollegen, das Dorffest wie das Weltereignis,<br />

kann westfälisch-derb schwatzen<br />

und geschliffene Pressestatements formulieren,<br />

die Party-Polonaise anführen und<br />

als Botschafterin für ein Kinderhilfswerk<br />

in Ghana auftreten.<br />

»Egal, wo sie auftritt, sie versprüht Energie«,<br />

sagt DLV-Präsident Kessing zu seiner<br />

Vorzeigesprinterin. Kessing ist Oberbürgermeister<br />

von Bietigheim-Bissingen,<br />

Stuttgarter Umland; wenn er Schulen besuche,<br />

kämen die Kinder an: »Du bist doch<br />

der Chef von der Lückenkemper – kannst<br />

du uns Autogramme besorgen?« Diskuswerfer<br />

Robert Harting habe eine überragende<br />

Wahrnehmung genossen in seiner<br />

Laufbahn, die dieses Jahr endet. Vielleicht<br />

könne nun Lückenkemper nachfolgen.<br />

»Die hat was«, sagt Kessing.<br />

Bislett-Stadion Oslo, Anfang Juni. Diamond<br />

League, ein Wettbewerb des Weltverbands<br />

IAAF, die Elite misst sich. Lückenkemper<br />

steht auf Bahn acht, ganz außen,<br />

eine Armlänge entfernt von den<br />

Zuschauern, dezentes Make-up, dezentes<br />

Lächeln, hier ist sie nur eine Randfigur. Neben<br />

ihr Läuferinnen aus Trinidad und Tobago,<br />

von der Elfenbeinküste mit leuchtend<br />

rotem Lippenstift, die Küsse in die Fernsehkameras<br />

hauchen. 10000 Dollar sind zu<br />

gewinnen, viel Geld in diesem Sport. Es ist<br />

Lückenkempers zweites Jahr in der Diamond<br />

League, sie sammelt noch Erfahrung.<br />

Das Startsignal ertönt, Lückenkemper<br />

rennt dem Feld hinterher, wird Fünfte von<br />

acht. Immerhin: 11,16 Sekunden, fast ein<br />

Zehntel schneller als noch in Jena, knapp<br />

ein Wimpernschlag, im Sprint ist das viel.<br />

»<strong>Der</strong> Start war eine Katastrophe«, sagt<br />

Lückenkemper kurz darauf, »aber das verzeihe<br />

ich mir.« Ihre Augen sind leicht gerötet,<br />

14 Stunden habe ihre Anreise am Vortag<br />

gedauert: Steinschlag auf der Autobahn,<br />

Flugausfall, geänderte Abflugzeiten, um<br />

halb zwei nachts erst im Hotel. »Ist halt alles<br />

kacke gelaufen, was kacke laufen konnte«,<br />

sagt sie, dafür sei die Zeit passabel.<br />

»Bis auf vorne – wie war meine Reaktionszeit?<br />

Nullkommazweinochwas?« Sie lacht.<br />

Ihre Konkurrentinnen benötigen bis zu sieben<br />

hundertstel Sekunden weniger, um aus<br />

dem Startblock zu kommen. Lückenkempers<br />

größte Schwäche.<br />

»Die Gina ist im Soll«, sagt Ulrich Kunst<br />

und macht eine abschwächende Handbewegung,<br />

»dat is’ ganz normal.« Wenige<br />

Tage nach Oslo sitzt der Rheinländer Kunst,<br />

67, in einer Dortmunder Leichtathletikhalle.<br />

Seit Anfang 2015 trainiert er Lückenkemper,<br />

er weiß, wie sie tickt. »Mit müdem<br />

Kopf kann man nicht frisch laufen«, sagt<br />

Kunst und zuckt mit den Schultern.<br />

Lückenkemper vertraut »dem Uli«.<br />

Nicht viele könnten sie trainieren, sie sei<br />

nun mal anders. »Für mich gibt es kein<br />

Gina<br />

Lückenkemper<br />

5. <strong>August</strong> 2017<br />

Die schnellsten<br />

deutschen<br />

100-Meter-<br />

Läuferinnen<br />

10,95 Sekunden 10,91 10,89<br />

Bärbel Wöckel<br />

1. Juli 1982<br />

Mutmaßliche Leistungssteigerung durch:<br />

Oral-Turinabol*<br />

Handbuch, in dem man nachschauen kann,<br />

welche Knöpfe man drücken muss, damit<br />

ich funktioniere«, sagt Lückenkemper zu<br />

ihren Ansprüchen, »sondern es braucht<br />

unfassbar viel Gespür und Erfahrung.«<br />

Kunst bringt diese Erfahrung mit, er hat<br />

in Wattenscheid und Katar, Leverkusen<br />

und Singapur gearbeitet. Zum Trainer -<br />

dasein habe ihn sein Sportlehrer auf dem<br />

Gymnasium in Remscheid animiert, ein<br />

gewisser Erich Ribbeck, später Fußball -<br />

nationaltrainer. Eigentlich ist er seit 2016<br />

verrentet, aber für Lückenkemper arbeitet<br />

Kunst weiter, Olympia 2020 in Tokio wollen<br />

sie gemeinsam erleben.<br />

»Die Gina hat mal gesagt, ich sei bescheuert«,<br />

sagt Kunst, ein kleiner Mann<br />

mit Brille und Bauch, »und damit hat sie<br />

gar nicht mal so unrecht.« Er grinst. Kunst<br />

hat seine eigenen Methoden, setzt Qualität<br />

über Quantität, betont das Grund -<br />

lagentraining: »Ich versuche immer, auf<br />

den Ursprung der Leichtathletik zurückzukommen.«<br />

Manchmal dauern ihre Trainingseinheiten<br />

nur 60 Minuten, Lückenkemper geht<br />

zunächst zwei, drei Runden über die Bahn,<br />

dehnt sich, gefolgt von »Basics«, wie<br />

Kunst es nennt, moderate Koordinationsund<br />

Laufübungen, für andere ein besseres<br />

Aufwärmprogramm. »Sie lernt dadurch ihren<br />

Körper kennen, sich zu positionieren,<br />

Bewegungen anzusteuern«, sagt Kunst.<br />

Wichtig sei aber vor allem die Regenera -<br />

tion, ein ausgeruhter Kopf, bei Lückenkemper<br />

noch mehr als bei anderen.<br />

Heike Drechsler<br />

6. Juli 1986<br />

Oral-Turinabol,<br />

Testosteronpropionat*<br />

Katrin Krabbe<br />

20. Juli 1988<br />

Clenbuterol**<br />

»Sprinten funktioniert von oben nach<br />

unten«, sagt Kunst, »Sprich: Das Hirn steuert.«<br />

Dafür arbeiteten sie seit 2016 auch<br />

mit einem Spezialisten zusammen: Lars<br />

Lienhard, ein ehemaliger Hürdenläufer,<br />

heute nennt er sich Neuroathletiktrainer.<br />

Sein Ziel: Sportlern dabei zu helfen, neuronale<br />

Prozesse zu verbessern, Impulse<br />

von außen schneller zu verarbeiten, Muskeln<br />

schneller anzusteuern. So soll auch<br />

Lückenkempers Reaktionszeit verringert<br />

werden. Dass Lienhard sie an einer Batterie<br />

lecken lässt, um das Gehirn anzuregen,<br />

machte vergangenes Jahr Schlagzeilen.<br />

Eine weitere Konsequenz: Lückenkemper<br />

schließt vor dem Start die Augen und<br />

versucht, sich gedanklich um die eigene<br />

Achse zu drehen. Ideomotorik, gedankliche<br />

Bewegung, die den Frontallappen im<br />

96

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!