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Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

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ILARIA MAGLIOCCHETTI LOMBI / DER SPIEGEL<br />

Schriftstellerin Dalcher: Grelle Farben<br />

Geht’s dir gut? Nein<br />

Literatur In dem Roman »Vox« schildert die amerikanische Autorin<br />

Christina Dalcher eine Welt, in der Frauen nur<br />

100 Wörter pro Tag sprechen dürfen. Ein feministischer Thriller.<br />

F<br />

rauen reden nicht mehr als Männer.<br />

Unabhängig <strong>vom</strong> Geschlecht braucht<br />

jeder von uns pro Tag etwa 16 000<br />

Wörter, um morgens die Kinder in die<br />

Schule zu verabschieden, um in der<br />

Konferenz dem Chef zu widersprechen,<br />

der Kassiererin im Supermarkt einen<br />

schönen Tag zu wünschen und am Abend<br />

mit dem Partner oder mit Freunden alles<br />

noch mal durchzuquatschen. Ein Unterschied<br />

existiert aber doch: Wenn Frauen<br />

ähnlich viele Worte machen wie Männer,<br />

haben alle den Eindruck, sie würden überdurchschnittlich<br />

viel reden. »Androzentrische<br />

Regel« nannte das die Linguistin Jennifer<br />

Coates schon vor 30 Jahren: Männer<br />

wie Frauen sind offensichtlich nach wie<br />

vor darauf konditioniert, dass sich Frauen<br />

im Gespräch mit Männern eher zurückhalten<br />

und ihnen die größeren Wortanteile<br />

überlassen sollten – das Erklären der Welt.<br />

Tun sie das nicht, erscheinen sie als geschwätzig.<br />

Christina Dalcher: »Vox«. Aus dem Englischen von<br />

Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. S. Fischer;<br />

406 Seiten; 20 Euro.<br />

Die amerikanische Autorin Christina<br />

Dalcher schafft in einem einstündigen Interview<br />

locker 5000 Wörter. Zwischendurch<br />

spricht sie sogar ein paar Sätze auf<br />

Deutsch mit leicht bayerischem Einschlag,<br />

sie hatte früher Verwandtschaft dort. In<br />

diesem Sommer verbringt Dalcher einige<br />

Wochen in Neapel, um ihr Italienisch aufzubessern.<br />

Sprache fasziniert sie, sie hat<br />

einen Doktor in Linguistik. Italiener,<br />

glaubt Dalcher, kämen eindeutig auf mehr<br />

als 16000 Wörter, allein die Wortgirlanden<br />

beim Verabschieden, dieser Genuss am<br />

Sprechen begeistert sie.<br />

Doch was würde es bedeuten, wenn die<br />

Anzahl der Wörter, die wir Tag für Tag äußern<br />

dürfen, begrenzt wäre? Diese Frage<br />

steht über Dalchers Roman »Vox«. Es ist<br />

ein dystopischer Thriller, der in einer nahen<br />

Zukunft in den USA spielt. Das Szenario:<br />

Ein christlicher Prediger ist der starke<br />

Mann im Land, er hat dem Präsidenten<br />

zu ausreichend Stimmen verholfen, nun<br />

unterdrücken er und seine »Bewegung der<br />

Reinen« das Land. Alle Frauen mussten<br />

ihren Job aufgeben, sich auf den Haushalt<br />

und die Familie beschränken. Keine darf<br />

mehr als 100 Wörter am Tag sprechen.<br />

Jede trägt am Handgelenk einen Wortzähler,<br />

der sie mit Stromstößen malträtiert, sobald<br />

sie diese Anzahl überschreitet.<br />

»Ich wollte zeigen, wie sehr unsere<br />

Menschlichkeit von Sprache abhängt«, sagt<br />

Christina Dalcher. <strong>Der</strong> bessere Teil des<br />

Buches ist die erste Hälfte, in der Dalcher<br />

schildert, was es für eine Familie bedeuten<br />

würde, wenn die Frau und die Tochter<br />

kaum sprechen dürften, während der Mann<br />

und die drei Söhne ungestraft ins Plaudern<br />

kommen könnten. Die Heldin von »Vox«<br />

heißt Jean McClellan, sie war als kognitive<br />

Linguistin in der Forschung tätig, ihr Spezialgebiet<br />

war die Bekämpfung von Aphasien,<br />

Sprachstörungen nach einer Hirnschädigung.<br />

Die erzwungene Rolle als Hausfrau<br />

bringt sie fast um den Verstand.<br />

Wenn sie ihre sechsjährige Tochter Sonia<br />

zu Bett bringt, summt sie Melodien ohne<br />

Text. Das Vorlesen von Gutenachtgeschichten<br />

muss sie ihrem Mann Patrick überlassen,<br />

denn selbst ein kurzes Kapitel würde ihr<br />

Wörterkontingent sprengen. »Mit sechs<br />

müsste Sonia über eine Armee von zehntausend<br />

Lexemen verfügen, individuelle<br />

Soldaten, die sich versammeln, stramm -<br />

stehen und den Befehlen ihres kleinen, noch<br />

formbaren Gehirns gehorchen. Müsste.«<br />

Jean McClellans Mann hat es sich angewöhnt,<br />

nur noch geschlossene Fragen zu stellen,<br />

die seine Frau mit einem Nicken oder<br />

Kopfschütteln beantworten kann oder mit<br />

einem einzigen Wort. Geht es dir gut? Kopfschütteln.<br />

Nein. Wenn die Tochter nachts im<br />

Schlaf spricht, muss sie sofort wach gerüttelt<br />

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