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ILARIA MAGLIOCCHETTI LOMBI / DER SPIEGEL<br />
Schriftstellerin Dalcher: Grelle Farben<br />
Geht’s dir gut? Nein<br />
Literatur In dem Roman »Vox« schildert die amerikanische Autorin<br />
Christina Dalcher eine Welt, in der Frauen nur<br />
100 Wörter pro Tag sprechen dürfen. Ein feministischer Thriller.<br />
F<br />
rauen reden nicht mehr als Männer.<br />
Unabhängig <strong>vom</strong> Geschlecht braucht<br />
jeder von uns pro Tag etwa 16 000<br />
Wörter, um morgens die Kinder in die<br />
Schule zu verabschieden, um in der<br />
Konferenz dem Chef zu widersprechen,<br />
der Kassiererin im Supermarkt einen<br />
schönen Tag zu wünschen und am Abend<br />
mit dem Partner oder mit Freunden alles<br />
noch mal durchzuquatschen. Ein Unterschied<br />
existiert aber doch: Wenn Frauen<br />
ähnlich viele Worte machen wie Männer,<br />
haben alle den Eindruck, sie würden überdurchschnittlich<br />
viel reden. »Androzentrische<br />
Regel« nannte das die Linguistin Jennifer<br />
Coates schon vor 30 Jahren: Männer<br />
wie Frauen sind offensichtlich nach wie<br />
vor darauf konditioniert, dass sich Frauen<br />
im Gespräch mit Männern eher zurückhalten<br />
und ihnen die größeren Wortanteile<br />
überlassen sollten – das Erklären der Welt.<br />
Tun sie das nicht, erscheinen sie als geschwätzig.<br />
Christina Dalcher: »Vox«. Aus dem Englischen von<br />
Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. S. Fischer;<br />
406 Seiten; 20 Euro.<br />
Die amerikanische Autorin Christina<br />
Dalcher schafft in einem einstündigen Interview<br />
locker 5000 Wörter. Zwischendurch<br />
spricht sie sogar ein paar Sätze auf<br />
Deutsch mit leicht bayerischem Einschlag,<br />
sie hatte früher Verwandtschaft dort. In<br />
diesem Sommer verbringt Dalcher einige<br />
Wochen in Neapel, um ihr Italienisch aufzubessern.<br />
Sprache fasziniert sie, sie hat<br />
einen Doktor in Linguistik. Italiener,<br />
glaubt Dalcher, kämen eindeutig auf mehr<br />
als 16000 Wörter, allein die Wortgirlanden<br />
beim Verabschieden, dieser Genuss am<br />
Sprechen begeistert sie.<br />
Doch was würde es bedeuten, wenn die<br />
Anzahl der Wörter, die wir Tag für Tag äußern<br />
dürfen, begrenzt wäre? Diese Frage<br />
steht über Dalchers Roman »Vox«. Es ist<br />
ein dystopischer Thriller, der in einer nahen<br />
Zukunft in den USA spielt. Das Szenario:<br />
Ein christlicher Prediger ist der starke<br />
Mann im Land, er hat dem Präsidenten<br />
zu ausreichend Stimmen verholfen, nun<br />
unterdrücken er und seine »Bewegung der<br />
Reinen« das Land. Alle Frauen mussten<br />
ihren Job aufgeben, sich auf den Haushalt<br />
und die Familie beschränken. Keine darf<br />
mehr als 100 Wörter am Tag sprechen.<br />
Jede trägt am Handgelenk einen Wortzähler,<br />
der sie mit Stromstößen malträtiert, sobald<br />
sie diese Anzahl überschreitet.<br />
»Ich wollte zeigen, wie sehr unsere<br />
Menschlichkeit von Sprache abhängt«, sagt<br />
Christina Dalcher. <strong>Der</strong> bessere Teil des<br />
Buches ist die erste Hälfte, in der Dalcher<br />
schildert, was es für eine Familie bedeuten<br />
würde, wenn die Frau und die Tochter<br />
kaum sprechen dürften, während der Mann<br />
und die drei Söhne ungestraft ins Plaudern<br />
kommen könnten. Die Heldin von »Vox«<br />
heißt Jean McClellan, sie war als kognitive<br />
Linguistin in der Forschung tätig, ihr Spezialgebiet<br />
war die Bekämpfung von Aphasien,<br />
Sprachstörungen nach einer Hirnschädigung.<br />
Die erzwungene Rolle als Hausfrau<br />
bringt sie fast um den Verstand.<br />
Wenn sie ihre sechsjährige Tochter Sonia<br />
zu Bett bringt, summt sie Melodien ohne<br />
Text. Das Vorlesen von Gutenachtgeschichten<br />
muss sie ihrem Mann Patrick überlassen,<br />
denn selbst ein kurzes Kapitel würde ihr<br />
Wörterkontingent sprengen. »Mit sechs<br />
müsste Sonia über eine Armee von zehntausend<br />
Lexemen verfügen, individuelle<br />
Soldaten, die sich versammeln, stramm -<br />
stehen und den Befehlen ihres kleinen, noch<br />
formbaren Gehirns gehorchen. Müsste.«<br />
Jean McClellans Mann hat es sich angewöhnt,<br />
nur noch geschlossene Fragen zu stellen,<br />
die seine Frau mit einem Nicken oder<br />
Kopfschütteln beantworten kann oder mit<br />
einem einzigen Wort. Geht es dir gut? Kopfschütteln.<br />
Nein. Wenn die Tochter nachts im<br />
Schlaf spricht, muss sie sofort wach gerüttelt<br />
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