Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ausland<br />
STEFAN KLEINOWITZ / DER SPIEGEL<br />
Taxi mit Bild des neuen Regierungschefs Abiy: Neugeborene werden nach ihm benannt<br />
Ein afrikanisches Märchen<br />
Äthiopien Erst seit vier Monaten ist Premier Abiy Ahmed im Amt, aber schon jetzt wird der Mann,<br />
der sein Land in Rekordgeschwindigkeit verändert, verehrt wie ein Heiliger.<br />
E<br />
rst dachte Luwam Gebreyesus an<br />
eine Erscheinung. Sie konnte nicht<br />
glauben, dass ihre Mutter tatsächlich<br />
auf sie zukam. Auch die Mutter<br />
schien kurz zu zweifeln. War es wirklich<br />
wahr, was da am Samstag vor zwei<br />
Wochen am Flughafen der äthiopischen<br />
Hauptstadt Addis Abeba geschah? Lelem,<br />
die Mutter, ging unsicher <strong>vom</strong> Ausgang<br />
des Terminals auf ihre Tochter zu. Im<br />
nächsten Moment fielen sich beide in die<br />
Arme, hielten sich fest umklammert, weinten<br />
minutenlag.<br />
Drei Jahre lang hatten sie sich nicht<br />
mehr gesehen und gesprochen. Die<br />
Mutter lebt in Eritrea, die Tochter in<br />
Äthiopien, rund 700 Kilometer Luft -<br />
linie voneinander entfernt, getrennt<br />
durch die schier unüberwindliche Grenze<br />
90<br />
zwischen zwei zu Tode verfeindeten<br />
Staaten.<br />
Mutter Lelem, 45, hält vier rote Rosen<br />
in der Hand, die ihr die Tochter gegeben<br />
hat. Sie wischt sich die Tränen aus den Augen.<br />
Morgen wird sie auch ihren nach<br />
Äthiopien geflohenen Vater treffen, zum<br />
ersten Mal nach 27 Jahren.<br />
Sie sagt: »Gott segne Abiy, er hat unsere<br />
Familie wiedervereinigt.«<br />
Abiy Ahmed ist der neue äthiopische<br />
Premierminister, den seine Landsleute<br />
schon jetzt verehren wie einen lange ersehnten<br />
Heilsbringer, denn ihm ist etwas<br />
schier Unmögliches gelungen. Er hat Frieden<br />
mit dem Nachbarland Eritrea geschlossen<br />
und den gegenseitigen Hass überwunden,<br />
der die beiden hochgerüsteten Staaten<br />
seit dem Krieg um einen staubigen<br />
Landstrich trennte, bei dem zwischen 1998<br />
und 2000 nahezu 100 000 Menschen getötet<br />
wurden.<br />
»Ich war 18, als ich zweien meiner älteren<br />
Geschwister folgte und vor dem Militärdienst<br />
hierher nach Äthiopien geflohen<br />
bin«, sagt Luwam. <strong>Der</strong> zeitlich unbegrenzte<br />
Dienst in Eritrea treibt seit Jahren Zehntausende<br />
junge Frauen und Männer aus<br />
dem diktatorisch regierten Land, das oft<br />
»<strong>No</strong>rdkorea Afrikas« genannt wird. »Jetzt<br />
komme ich mir vor wie in einem Märchen.«<br />
Ein Märchen, das sie Abiy Ahmed zu<br />
verdanken hat. Er ist erst seit vier Monaten<br />
im Amt, aber in dieser kurzen Zeit<br />
reichte er nicht nur dem eritreischen Gewaltherrscher<br />
Isaias Afwerki die Hand zur<br />
Versöhnung, sondern stellte auch sein eigenes<br />
Land auf den Kopf. Abiy hob den