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Z<br />
wanzig Autominuten westlich der<br />
marokkanischen Hafenstadt Tanger,<br />
in Sichtweite Spaniens, be -<br />
gibt sich ein junger Kameruner<br />
auf den Weg nach Europa. Paul, so soll<br />
er hier heißen, trägt Jeans zum roten<br />
T-Shirt. Er nimmt die Schotterpiste am<br />
Meer entlang.<br />
Im Zickzack geht es durch Pinienwälder<br />
und Dornengestrüpp, ein paar Felsabhänge<br />
hinab und an einem verlassenen Wachturm<br />
des marokkanischen Militärs vorbei.<br />
Dann ist sie erreicht – die Bucht im Süden<br />
der Straße von Gibraltar, in der er und seine<br />
Freunde den Sprung nach drüben proben.<br />
Direkt gegenüber, keine 20 Kilometer<br />
Luftlinie entfernt, liegt die spanische Costa<br />
de la Luz.<br />
Bisher ist Pauls Flucht jedes Mal gescheitert.<br />
Entweder kam die Küstenwache<br />
und pfiff ihn zurück, oder der Wind drehte<br />
das Boot, in dem er und seine<br />
Schicksalsgenossen saßen, im<br />
Kreis.<br />
Rund um Tanger gibt es an<br />
die 20 Strände. Allein in den<br />
vergangenen zwei Wochen<br />
versuchten 18 000 Flüchtlinge,<br />
von hier aus in kleinen Gummibooten<br />
meist ohne Motor<br />
zu jeweils fünf bis zehn Mann<br />
in See zu stechen. Die Überfahrt<br />
dauert an guten Tagen<br />
um die sechs Stunden und kostet<br />
pro Kopf zwischen 500 und<br />
2000 Euro.<br />
Die Schlepper, die sich nun<br />
zunehmend auch in Tanger<br />
einnisten, träfen sich mit ihrer<br />
Kundschaft im Viertel Misnana,<br />
sagt Paul. Dort schlafen die<br />
Neuankömmlinge aus dem<br />
Senegal oder aus Ghana unter<br />
selbst gebauten Zelten aus<br />
Lkw-Planen, ehe sie die Flucht<br />
nach Europa wagen. Seit sich<br />
herumgesprochen hat, dass in libyschen<br />
Lagern gefoltert wird und Italiens Regierung<br />
Schiffe mit geretteten Flüchtlingen<br />
zurückweisen lässt, suchen immer mehr<br />
Migranten nach Alternativen.<br />
Jenseits der Meerenge, in Spanien, sind<br />
die Folgen zu besichtigen: Am Strand von<br />
Zahora nahe Kap Trafalgar sprintet am vergangenen<br />
Samstag eine halbe Hundertschaft<br />
Flüchtlinge zwischen dürftig bekleideten<br />
Badenden und FKK-Anhängern hügelwärts,<br />
kaum dass ihr Holzboot die Küste<br />
erreicht hat. Es herrscht Aufruhr am Strand,<br />
ein paar Urlauber filmen. Die Aufnahmen,<br />
wenig später ins Netz gestellt, dokumentieren<br />
den Zusammenprall zweier Welten.<br />
Die Bilder aus Spanien, die um die Welt<br />
gehen, sagen die Wahrheit und erwecken<br />
doch einen falschen Eindruck. Einerseits<br />
sind in Spanien seit Jahresbeginn tatsächlich<br />
mehr Bootsflüchtlinge angekommen<br />
Ausland<br />
Aufruhr am<br />
Strand<br />
Migration In Spanien kommen gerade die meisten<br />
Flüchtlingsboote an, doch die Zahl der<br />
nach Europa drängenden Migranten ist stark<br />
gesunken. Rom und Madrid ringen um die<br />
richtige Strategie – und die Europäer verhandeln mit<br />
schwierigen Partnern in Marokko und Libyen.<br />
als in Italien; von Marokko nach Spanien,<br />
das ist die derzeit meistgenutzte Route<br />
nach Europa. Denn der Weg über das zentrale<br />
Mittelmeer von Libyen nach Italien<br />
ist weitgehend versperrt, seitdem die neue<br />
italienische Regierung auf Geheiß des<br />
rechtsnationalen Innenministers Matteo<br />
Salvini keine Schiffe mit Flüchtlingen mehr<br />
anlanden lässt.<br />
Was die Bilder verschweigen: Die Zahl<br />
der Neuankömmlinge über das Mittelmeer<br />
auf europäischem Boden ist insgesamt<br />
stark gesunken – von mehr als einer Mil -<br />
lion im Jahr 2015 auf gut 58 000 in den<br />
ersten sieben Monaten des Jahres <strong>2018</strong>.<br />
Die Abkommen der italienischen Vorgängerregierung<br />
mit libyschen Behörden und<br />
die Politik der neuen italienischen Regierung<br />
zeigen Wirkung: »Seit fünf oder sechs<br />
Monaten ist die Situation komplett verändert«,<br />
sagt Sebastiano Rossitto, Fregattenkapitän<br />
der italienischen Marine, der mit<br />
der »Virginio Fasan« vor Libyens Küste<br />
kreuzt.<br />
<strong>Der</strong> Streit um Migration hat sich unter<br />
den Europäern in den vergangenen Monaten<br />
aber paradoxerweise verschärft. In der<br />
Frage, wer die Gestrandeten aufnehmen<br />
soll, zeigt sich die europäische Werte -<br />
gemeinschaft als das, was sie in Wahrheit<br />
ist – ein zerstrittener Haufen. Die beiden<br />
Mittelmeeranrainer Italien und Spanien<br />
stehen da für eine gänzlich entgegengesetzte<br />
Politik. War es bis vor Kurzem die<br />
sozialdemokratische Regierung Italiens,<br />
die einen eher liberalen Kurs in der Flüchtlingsfrage<br />
beibehielt, so sind es nun die<br />
frisch an die Macht gekommenen Linken<br />
in Madrid. Und in Rom geben jetzt die<br />
Hardliner den Ton an.<br />
Während in Spanien immer neue Turnhallen<br />
und Zeltlager bereitgestellt werden,<br />
versorgt Innenminister Salvini seine Anhängerschaft<br />
in bester Laune mit Selfies<br />
<strong>vom</strong> Strand. Knietief im Wasser stehend,<br />
das Bäuchlein über hellgrauen Badeshorts<br />
gewölbt, grüßt er <strong>vom</strong> Küstenort Milano<br />
Marittima aus mit den Worten: »Meer,<br />
Sonne, Stille, Freunde, Bier« – und fügt<br />
ironisch hinzu: »Küsschen nach Mallorca«.<br />
Mallorca? Die Regierung der Baleareninsel<br />
hat Salvini zur unerwünschten Person<br />
erklärt und ihm ein Einreiseverbot<br />
wegen »Fremdenfeindlichkeit« erteilt. Italiens<br />
Vizepremier verkauft das als persönlichen<br />
Erfolg. Seht her, so seine Nachricht,<br />
an Italiens Stränden lässt sich dank meiner<br />
Abschottungspolitik wieder in Ruhe baden,<br />
während in Spanien nun die Afrikaner<br />
ankommen, weil die neue sozialistische<br />
Regierung es so will.<br />
Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez<br />
überraschte schon zwei Wochen nach<br />
Amtsantritt die Verbündeten,<br />
indem er Mitte Juni 630<br />
Menschen <strong>vom</strong> Rettungsschiff<br />
»Aquarius«, das Italien und<br />
Malta abgewiesen hatten, im<br />
Hafen von Valencia an Land<br />
gehen ließ. <strong>Der</strong> neue Außenminister,<br />
Josep Borrell, erklärte<br />
dazu in Madrid, die Geste sei<br />
als »Elektroschock« für die EU<br />
gedacht. Die Europäer dürften<br />
»nicht länger wegschauen« –<br />
wenn sie die Frage der Zuwanderung<br />
nicht gemeinsam angingen,<br />
könne das zur Auflösung<br />
der Gemeinschaft führen.<br />
An der Vorgängerregierung<br />
bemängelt Spaniens Innen -<br />
minister Fernando Grande-<br />
Marlaska, dass sie keine Vorbereitungen<br />
getroffen habe,<br />
obwohl schon seit dem vergangenen<br />
Jahr immer mehr Bootsflüchtlinge<br />
angekommen seien.<br />
Premier Sánchez, der mit einem<br />
Minderheitskabinett regiert, steht in<br />
der Flüchtlingsfrage wiederum von rechts<br />
unter Druck. <strong>Der</strong> frisch gekürte Chef der<br />
konservativen Volkspartei, Pablo Casado,<br />
sagt: »Es ist nicht möglich, dass Spanien<br />
Millionen von Afrikanern absorbiert, die<br />
nach Europa kommen wollen.« Es gelte,<br />
die Grenze zu »verteidigen«.<br />
Davon unbeeindruckt, erwägt die linke<br />
Regierung, den mit scharfen Metallklingen<br />
bewehrten Natodraht an den Außengrenzen<br />
der Exklaven in Marokko, Ceuta und<br />
Melilla abzumontieren. Auf Weisung von<br />
Premier Sánchez behandeln Krankenhäuser<br />
neuerdings sogar wieder Zuwanderer<br />
ohne Aufenthaltsgenehmigung. Das alles<br />
habe »Signalwirkung« und locke Flüchtlinge<br />
nach Spanien, warnen Konservative<br />
und Liberale. <strong>Der</strong> Bürgermeister der Küstenstadt<br />
Algeciras sieht gar ein »neues<br />
Lampedusa« in Andalusien entstehen –<br />
78 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>