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Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

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Z<br />

wanzig Autominuten westlich der<br />

marokkanischen Hafenstadt Tanger,<br />

in Sichtweite Spaniens, be -<br />

gibt sich ein junger Kameruner<br />

auf den Weg nach Europa. Paul, so soll<br />

er hier heißen, trägt Jeans zum roten<br />

T-Shirt. Er nimmt die Schotterpiste am<br />

Meer entlang.<br />

Im Zickzack geht es durch Pinienwälder<br />

und Dornengestrüpp, ein paar Felsabhänge<br />

hinab und an einem verlassenen Wachturm<br />

des marokkanischen Militärs vorbei.<br />

Dann ist sie erreicht – die Bucht im Süden<br />

der Straße von Gibraltar, in der er und seine<br />

Freunde den Sprung nach drüben proben.<br />

Direkt gegenüber, keine 20 Kilometer<br />

Luftlinie entfernt, liegt die spanische Costa<br />

de la Luz.<br />

Bisher ist Pauls Flucht jedes Mal gescheitert.<br />

Entweder kam die Küstenwache<br />

und pfiff ihn zurück, oder der Wind drehte<br />

das Boot, in dem er und seine<br />

Schicksalsgenossen saßen, im<br />

Kreis.<br />

Rund um Tanger gibt es an<br />

die 20 Strände. Allein in den<br />

vergangenen zwei Wochen<br />

versuchten 18 000 Flüchtlinge,<br />

von hier aus in kleinen Gummibooten<br />

meist ohne Motor<br />

zu jeweils fünf bis zehn Mann<br />

in See zu stechen. Die Überfahrt<br />

dauert an guten Tagen<br />

um die sechs Stunden und kostet<br />

pro Kopf zwischen 500 und<br />

2000 Euro.<br />

Die Schlepper, die sich nun<br />

zunehmend auch in Tanger<br />

einnisten, träfen sich mit ihrer<br />

Kundschaft im Viertel Misnana,<br />

sagt Paul. Dort schlafen die<br />

Neuankömmlinge aus dem<br />

Senegal oder aus Ghana unter<br />

selbst gebauten Zelten aus<br />

Lkw-Planen, ehe sie die Flucht<br />

nach Europa wagen. Seit sich<br />

herumgesprochen hat, dass in libyschen<br />

Lagern gefoltert wird und Italiens Regierung<br />

Schiffe mit geretteten Flüchtlingen<br />

zurückweisen lässt, suchen immer mehr<br />

Migranten nach Alternativen.<br />

Jenseits der Meerenge, in Spanien, sind<br />

die Folgen zu besichtigen: Am Strand von<br />

Zahora nahe Kap Trafalgar sprintet am vergangenen<br />

Samstag eine halbe Hundertschaft<br />

Flüchtlinge zwischen dürftig bekleideten<br />

Badenden und FKK-Anhängern hügelwärts,<br />

kaum dass ihr Holzboot die Küste<br />

erreicht hat. Es herrscht Aufruhr am Strand,<br />

ein paar Urlauber filmen. Die Aufnahmen,<br />

wenig später ins Netz gestellt, dokumentieren<br />

den Zusammenprall zweier Welten.<br />

Die Bilder aus Spanien, die um die Welt<br />

gehen, sagen die Wahrheit und erwecken<br />

doch einen falschen Eindruck. Einerseits<br />

sind in Spanien seit Jahresbeginn tatsächlich<br />

mehr Bootsflüchtlinge angekommen<br />

Ausland<br />

Aufruhr am<br />

Strand<br />

Migration In Spanien kommen gerade die meisten<br />

Flüchtlingsboote an, doch die Zahl der<br />

nach Europa drängenden Migranten ist stark<br />

gesunken. Rom und Madrid ringen um die<br />

richtige Strategie – und die Europäer verhandeln mit<br />

schwierigen Partnern in Marokko und Libyen.<br />

als in Italien; von Marokko nach Spanien,<br />

das ist die derzeit meistgenutzte Route<br />

nach Europa. Denn der Weg über das zentrale<br />

Mittelmeer von Libyen nach Italien<br />

ist weitgehend versperrt, seitdem die neue<br />

italienische Regierung auf Geheiß des<br />

rechtsnationalen Innenministers Matteo<br />

Salvini keine Schiffe mit Flüchtlingen mehr<br />

anlanden lässt.<br />

Was die Bilder verschweigen: Die Zahl<br />

der Neuankömmlinge über das Mittelmeer<br />

auf europäischem Boden ist insgesamt<br />

stark gesunken – von mehr als einer Mil -<br />

lion im Jahr 2015 auf gut 58 000 in den<br />

ersten sieben Monaten des Jahres <strong>2018</strong>.<br />

Die Abkommen der italienischen Vorgängerregierung<br />

mit libyschen Behörden und<br />

die Politik der neuen italienischen Regierung<br />

zeigen Wirkung: »Seit fünf oder sechs<br />

Monaten ist die Situation komplett verändert«,<br />

sagt Sebastiano Rossitto, Fregattenkapitän<br />

der italienischen Marine, der mit<br />

der »Virginio Fasan« vor Libyens Küste<br />

kreuzt.<br />

<strong>Der</strong> Streit um Migration hat sich unter<br />

den Europäern in den vergangenen Monaten<br />

aber paradoxerweise verschärft. In der<br />

Frage, wer die Gestrandeten aufnehmen<br />

soll, zeigt sich die europäische Werte -<br />

gemeinschaft als das, was sie in Wahrheit<br />

ist – ein zerstrittener Haufen. Die beiden<br />

Mittelmeeranrainer Italien und Spanien<br />

stehen da für eine gänzlich entgegengesetzte<br />

Politik. War es bis vor Kurzem die<br />

sozialdemokratische Regierung Italiens,<br />

die einen eher liberalen Kurs in der Flüchtlingsfrage<br />

beibehielt, so sind es nun die<br />

frisch an die Macht gekommenen Linken<br />

in Madrid. Und in Rom geben jetzt die<br />

Hardliner den Ton an.<br />

Während in Spanien immer neue Turnhallen<br />

und Zeltlager bereitgestellt werden,<br />

versorgt Innenminister Salvini seine Anhängerschaft<br />

in bester Laune mit Selfies<br />

<strong>vom</strong> Strand. Knietief im Wasser stehend,<br />

das Bäuchlein über hellgrauen Badeshorts<br />

gewölbt, grüßt er <strong>vom</strong> Küstenort Milano<br />

Marittima aus mit den Worten: »Meer,<br />

Sonne, Stille, Freunde, Bier« – und fügt<br />

ironisch hinzu: »Küsschen nach Mallorca«.<br />

Mallorca? Die Regierung der Baleareninsel<br />

hat Salvini zur unerwünschten Person<br />

erklärt und ihm ein Einreiseverbot<br />

wegen »Fremdenfeindlichkeit« erteilt. Italiens<br />

Vizepremier verkauft das als persönlichen<br />

Erfolg. Seht her, so seine Nachricht,<br />

an Italiens Stränden lässt sich dank meiner<br />

Abschottungspolitik wieder in Ruhe baden,<br />

während in Spanien nun die Afrikaner<br />

ankommen, weil die neue sozialistische<br />

Regierung es so will.<br />

Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez<br />

überraschte schon zwei Wochen nach<br />

Amtsantritt die Verbündeten,<br />

indem er Mitte Juni 630<br />

Menschen <strong>vom</strong> Rettungsschiff<br />

»Aquarius«, das Italien und<br />

Malta abgewiesen hatten, im<br />

Hafen von Valencia an Land<br />

gehen ließ. <strong>Der</strong> neue Außenminister,<br />

Josep Borrell, erklärte<br />

dazu in Madrid, die Geste sei<br />

als »Elektroschock« für die EU<br />

gedacht. Die Europäer dürften<br />

»nicht länger wegschauen« –<br />

wenn sie die Frage der Zuwanderung<br />

nicht gemeinsam angingen,<br />

könne das zur Auflösung<br />

der Gemeinschaft führen.<br />

An der Vorgängerregierung<br />

bemängelt Spaniens Innen -<br />

minister Fernando Grande-<br />

Marlaska, dass sie keine Vorbereitungen<br />

getroffen habe,<br />

obwohl schon seit dem vergangenen<br />

Jahr immer mehr Bootsflüchtlinge<br />

angekommen seien.<br />

Premier Sánchez, der mit einem<br />

Minderheitskabinett regiert, steht in<br />

der Flüchtlingsfrage wiederum von rechts<br />

unter Druck. <strong>Der</strong> frisch gekürte Chef der<br />

konservativen Volkspartei, Pablo Casado,<br />

sagt: »Es ist nicht möglich, dass Spanien<br />

Millionen von Afrikanern absorbiert, die<br />

nach Europa kommen wollen.« Es gelte,<br />

die Grenze zu »verteidigen«.<br />

Davon unbeeindruckt, erwägt die linke<br />

Regierung, den mit scharfen Metallklingen<br />

bewehrten Natodraht an den Außengrenzen<br />

der Exklaven in Marokko, Ceuta und<br />

Melilla abzumontieren. Auf Weisung von<br />

Premier Sánchez behandeln Krankenhäuser<br />

neuerdings sogar wieder Zuwanderer<br />

ohne Aufenthaltsgenehmigung. Das alles<br />

habe »Signalwirkung« und locke Flüchtlinge<br />

nach Spanien, warnen Konservative<br />

und Liberale. <strong>Der</strong> Bürgermeister der Küstenstadt<br />

Algeciras sieht gar ein »neues<br />

Lampedusa« in Andalusien entstehen –<br />

78 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>

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