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Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

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Solardach im Berliner Regierungsviertel: Mehr Strom als 20 Atomkraftwerke<br />

mehr als extrem empfunden werden, sondern<br />

als normal, als Regel.<br />

Die Hitze trifft ein Land, das hellhörig<br />

geworden ist. Das sich plötzlich um Großwetterlagen<br />

sorgt, um Regenwahrscheinlichkeiten,<br />

um die mittelfristige, die langfristige<br />

Prognose. Ein Land, das zum<br />

ersten Mal seit langer Zeit gespannt auf<br />

den Erntebericht wartet, weil von der<br />

Ernte <strong>2018</strong> überraschend viel abhängt:<br />

der Milchpreis beispielsweise und die<br />

Größe der Pommes frites, die Güte des<br />

Weinjahrgangs und die Verfügbarkeit von<br />

Alltäglichem sowieso: von Brot und Bohnen,<br />

Kartoffeln und Erbsen.<br />

Die Deutschen lernen in diesen Wochen<br />

neue Begriffe kennen: Soforthilfe und<br />

<strong>No</strong>ternte, »Blow-ups« (wenn sich der<br />

Asphalt aufwölbt), Apfelsonnenbrand und<br />

Kleinwassersituation, so bezeichnen Binnenschiffer<br />

niedrige Pegelstände, die die<br />

Flussschifffahrt gefährden.<br />

Plötzlich interessieren sich die Menschen<br />

für Nebensächliches: Grilltipps,<br />

Lichtschutzfaktoren, rechtliche Streitfragen<br />

(»Darf man nackt auf dem Balkon liegen?«)<br />

– geeint in dem Gefühl, etwas Historisches<br />

zu erleben, den Beginn von etwas<br />

Neuem, Unbekanntem und vielleicht<br />

sogar Bedrohlichem.<br />

In Westerrade, 25 Kilometer nordwestlich<br />

von Lübeck gelegen, steht Dietrich<br />

Pritschau, 57, auf seiner Hauskoppel und<br />

starrt auf welke Zuckerrübenblätter, die<br />

auf dem Boden liegen. Seit sechs Generationen<br />

mindestens lebt die Familie von der<br />

Landwirtschaft, zusammen mit seiner Frau<br />

Cathrin, seinem Bruder Klaus und seinem<br />

Sohn Tyll leitet er den Betrieb. »So etwas<br />

habe ich noch nie erlebt«, sagt Pritschau.<br />

»Wie traurig sie da liegen.«<br />

Pritschau ist Diplom-Agraringenieur,<br />

mit 14 Angestellten und 2 Auszubildenden<br />

bestellt er mehr als 1300 Hektar. 75 Hektar<br />

liegen bei Westerrade, der Rest in Mecklenburg.<br />

PAUL LANGROCK<br />

In diesen Tagen ernten seine Leute die<br />

letzten Äcker ab, etwa drei Wochen früher<br />

als üblich. <strong>Der</strong> Mais steht mit hellen, aufgerollten<br />

Blättern in der Sonne, sie haben<br />

die fahle Farbe von Kakteen, nicht das satte,<br />

norddeutsche Grün. Auf einigen Feldern<br />

hat Pritschau bereits den sogenannten<br />

Stoppelsturz machen lassen, eine Art<br />

Unkrautbekämpfung mit Traktor und<br />

Scheibenegge. Beim Arbeiten zogen die<br />

Schlepper eine Staubwolke hinter sich her.<br />

Neun Früchte baut Pritschau an, fünf<br />

davon hat er bereits geerntet. Bei der Gerste<br />

hatten die Pritschaus in diesem Jahr einen<br />

Ernteausfall von 28 Prozent, verglichen<br />

mit dem Durchschnitt der vergangenen<br />

fünf Jahre. Beim Raps waren es 26<br />

Prozent, beim Roggen 45 Prozent, beim<br />

Weizen 47 Prozent.<br />

Ein Traum von einem Sommer, der für<br />

ihn zum Albtraum geworden ist. »Es ist<br />

die mickrigste Ernte meines Lebens«, sagt<br />

Pritschau, seit 31 Jahren im Geschäft.<br />

Für Getreidebauern im <strong>No</strong>rden Deutschlands<br />

endete schon das Jahr 2017 enttäuschend:<br />

Nach monatelangem Regen stand<br />

das Wasser auf vielen Äckern noch so<br />

hoch, dass viele Landwirte vor dem Frost<br />

nicht aussäen konnten. Ohne Kältereiz<br />

setzt Winterweizen jedoch keine Früchte<br />

an. Deshalb wurde auf vielen Feldern erst<br />

ab Februar gesät, Sommerweizen – eine<br />

Sorte, die ein Fünftel weniger Ertrag bringt<br />

als ihr kälteabhängiger Zwilling.<br />

<strong>Der</strong> Bauernverband erwartet, dass die<br />

Ernten trockenheitsbedingt bei sechs Tonnen<br />

pro Hektar Winterweizen liegen werden<br />

– 20 Prozent unter den Ertragsergebnissen<br />

des Jahres 2017. Das ist die schlechte<br />

Nachricht. Die gute: Auch die Preise<br />

sind gestiegen, allein in den vergangenen<br />

vier Wochen um ebenfalls 20 Prozent.<br />

Es bleiben Fragen. Ist das, was wir in<br />

diesem Sommer erleben, tatsächlich der<br />

Klimawandel, jeder Sonnenbrand, jede<br />

durchschwitzte Nacht ein Beleg? Ist dieser<br />

Sommer der endgültige, unwiderlegbare<br />

Beweis, dass sich der Planet aufheizt?<br />

Eines ist klar: <strong>Der</strong> Sonnensommer passt<br />

erstaunlich genau zu den Klimabeobachtungen<br />

der letzten 138 Jahre und zu den<br />

Vorhersagen für die nächsten Jahrzehnte.<br />

Die Durchschnittstemperatur des Planeten<br />

wird wohl um zwei Grad oder mehr steigen.<br />

<strong>Der</strong> Effekt: Dürren, Hitzewellen und<br />

Starkregenfälle, die früher selten auftraten,<br />

könnten häufiger werden. <strong>Der</strong> Dürresommer<br />

des Jahres 2003, der Hitzesommer<br />

2015 sind bislang die hiesigen Rekordhalter<br />

seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.<br />

Wenn sich die Erde um zwei Grad aufwärmt,<br />

könnten derlei Sommer in unseren<br />

Breiten zum <strong>No</strong>rmalfall werden.<br />

Doch das bedeutet nicht, dass es überall<br />

und immer in Deutschland oder auf dem<br />

Planeten einheitlich heißer und trockener<br />

wird. Jede Region, jede Jahreszeit kann<br />

auf eigene Weise reagieren. Es bedeutet<br />

auch nicht, dass der nächste Sommer wieder<br />

so heiß und trocken wird wie dieser.<br />

Denn das Wetter macht, was es will, mal<br />

regnet es, mal schneit es, mal windet es,<br />

mal herrscht Flaute. Das Klima dagegen<br />

ist der über lange Zeiträume gemittelte<br />

Durchschnittswert der Wetterkapriolen.<br />

Einfach gesagt: Dieser Ausnahmesommer<br />

passt zufällig gut zum langfristigen<br />

Jahrhunderttrend. Doch es ist gefährlich,<br />

aus einzelnen Wetterereignissen zu viel<br />

herauszulesen. So widerlegt ein einzelner<br />

kalter, nasser Sommer auch nicht den langfristigen<br />

Erwärmungstrend. Die Ausreißer<br />

werden herausgemittelt aus der Statistik.<br />

Daher ist Vorsicht geboten, wenn man<br />

zu schnell <strong>vom</strong> Wetter auf das Klima<br />

schließt und verkündet: Die Dürre, das<br />

kann doch nur der Klimawandel sein.<br />

Gleichwohl lässt der Dauersommer zumindest<br />

erahnen, was langfristig auf uns<br />

zukommen könnte, wie wir in 50 oder<br />

70 Jahren vermutlich leben werden. <strong>Der</strong><br />

Sommer <strong>2018</strong> könnte im Jahr 2100 als nor-<br />

14 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>

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