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Solardach im Berliner Regierungsviertel: Mehr Strom als 20 Atomkraftwerke<br />
mehr als extrem empfunden werden, sondern<br />
als normal, als Regel.<br />
Die Hitze trifft ein Land, das hellhörig<br />
geworden ist. Das sich plötzlich um Großwetterlagen<br />
sorgt, um Regenwahrscheinlichkeiten,<br />
um die mittelfristige, die langfristige<br />
Prognose. Ein Land, das zum<br />
ersten Mal seit langer Zeit gespannt auf<br />
den Erntebericht wartet, weil von der<br />
Ernte <strong>2018</strong> überraschend viel abhängt:<br />
der Milchpreis beispielsweise und die<br />
Größe der Pommes frites, die Güte des<br />
Weinjahrgangs und die Verfügbarkeit von<br />
Alltäglichem sowieso: von Brot und Bohnen,<br />
Kartoffeln und Erbsen.<br />
Die Deutschen lernen in diesen Wochen<br />
neue Begriffe kennen: Soforthilfe und<br />
<strong>No</strong>ternte, »Blow-ups« (wenn sich der<br />
Asphalt aufwölbt), Apfelsonnenbrand und<br />
Kleinwassersituation, so bezeichnen Binnenschiffer<br />
niedrige Pegelstände, die die<br />
Flussschifffahrt gefährden.<br />
Plötzlich interessieren sich die Menschen<br />
für Nebensächliches: Grilltipps,<br />
Lichtschutzfaktoren, rechtliche Streitfragen<br />
(»Darf man nackt auf dem Balkon liegen?«)<br />
– geeint in dem Gefühl, etwas Historisches<br />
zu erleben, den Beginn von etwas<br />
Neuem, Unbekanntem und vielleicht<br />
sogar Bedrohlichem.<br />
In Westerrade, 25 Kilometer nordwestlich<br />
von Lübeck gelegen, steht Dietrich<br />
Pritschau, 57, auf seiner Hauskoppel und<br />
starrt auf welke Zuckerrübenblätter, die<br />
auf dem Boden liegen. Seit sechs Generationen<br />
mindestens lebt die Familie von der<br />
Landwirtschaft, zusammen mit seiner Frau<br />
Cathrin, seinem Bruder Klaus und seinem<br />
Sohn Tyll leitet er den Betrieb. »So etwas<br />
habe ich noch nie erlebt«, sagt Pritschau.<br />
»Wie traurig sie da liegen.«<br />
Pritschau ist Diplom-Agraringenieur,<br />
mit 14 Angestellten und 2 Auszubildenden<br />
bestellt er mehr als 1300 Hektar. 75 Hektar<br />
liegen bei Westerrade, der Rest in Mecklenburg.<br />
PAUL LANGROCK<br />
In diesen Tagen ernten seine Leute die<br />
letzten Äcker ab, etwa drei Wochen früher<br />
als üblich. <strong>Der</strong> Mais steht mit hellen, aufgerollten<br />
Blättern in der Sonne, sie haben<br />
die fahle Farbe von Kakteen, nicht das satte,<br />
norddeutsche Grün. Auf einigen Feldern<br />
hat Pritschau bereits den sogenannten<br />
Stoppelsturz machen lassen, eine Art<br />
Unkrautbekämpfung mit Traktor und<br />
Scheibenegge. Beim Arbeiten zogen die<br />
Schlepper eine Staubwolke hinter sich her.<br />
Neun Früchte baut Pritschau an, fünf<br />
davon hat er bereits geerntet. Bei der Gerste<br />
hatten die Pritschaus in diesem Jahr einen<br />
Ernteausfall von 28 Prozent, verglichen<br />
mit dem Durchschnitt der vergangenen<br />
fünf Jahre. Beim Raps waren es 26<br />
Prozent, beim Roggen 45 Prozent, beim<br />
Weizen 47 Prozent.<br />
Ein Traum von einem Sommer, der für<br />
ihn zum Albtraum geworden ist. »Es ist<br />
die mickrigste Ernte meines Lebens«, sagt<br />
Pritschau, seit 31 Jahren im Geschäft.<br />
Für Getreidebauern im <strong>No</strong>rden Deutschlands<br />
endete schon das Jahr 2017 enttäuschend:<br />
Nach monatelangem Regen stand<br />
das Wasser auf vielen Äckern noch so<br />
hoch, dass viele Landwirte vor dem Frost<br />
nicht aussäen konnten. Ohne Kältereiz<br />
setzt Winterweizen jedoch keine Früchte<br />
an. Deshalb wurde auf vielen Feldern erst<br />
ab Februar gesät, Sommerweizen – eine<br />
Sorte, die ein Fünftel weniger Ertrag bringt<br />
als ihr kälteabhängiger Zwilling.<br />
<strong>Der</strong> Bauernverband erwartet, dass die<br />
Ernten trockenheitsbedingt bei sechs Tonnen<br />
pro Hektar Winterweizen liegen werden<br />
– 20 Prozent unter den Ertragsergebnissen<br />
des Jahres 2017. Das ist die schlechte<br />
Nachricht. Die gute: Auch die Preise<br />
sind gestiegen, allein in den vergangenen<br />
vier Wochen um ebenfalls 20 Prozent.<br />
Es bleiben Fragen. Ist das, was wir in<br />
diesem Sommer erleben, tatsächlich der<br />
Klimawandel, jeder Sonnenbrand, jede<br />
durchschwitzte Nacht ein Beleg? Ist dieser<br />
Sommer der endgültige, unwiderlegbare<br />
Beweis, dass sich der Planet aufheizt?<br />
Eines ist klar: <strong>Der</strong> Sonnensommer passt<br />
erstaunlich genau zu den Klimabeobachtungen<br />
der letzten 138 Jahre und zu den<br />
Vorhersagen für die nächsten Jahrzehnte.<br />
Die Durchschnittstemperatur des Planeten<br />
wird wohl um zwei Grad oder mehr steigen.<br />
<strong>Der</strong> Effekt: Dürren, Hitzewellen und<br />
Starkregenfälle, die früher selten auftraten,<br />
könnten häufiger werden. <strong>Der</strong> Dürresommer<br />
des Jahres 2003, der Hitzesommer<br />
2015 sind bislang die hiesigen Rekordhalter<br />
seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.<br />
Wenn sich die Erde um zwei Grad aufwärmt,<br />
könnten derlei Sommer in unseren<br />
Breiten zum <strong>No</strong>rmalfall werden.<br />
Doch das bedeutet nicht, dass es überall<br />
und immer in Deutschland oder auf dem<br />
Planeten einheitlich heißer und trockener<br />
wird. Jede Region, jede Jahreszeit kann<br />
auf eigene Weise reagieren. Es bedeutet<br />
auch nicht, dass der nächste Sommer wieder<br />
so heiß und trocken wird wie dieser.<br />
Denn das Wetter macht, was es will, mal<br />
regnet es, mal schneit es, mal windet es,<br />
mal herrscht Flaute. Das Klima dagegen<br />
ist der über lange Zeiträume gemittelte<br />
Durchschnittswert der Wetterkapriolen.<br />
Einfach gesagt: Dieser Ausnahmesommer<br />
passt zufällig gut zum langfristigen<br />
Jahrhunderttrend. Doch es ist gefährlich,<br />
aus einzelnen Wetterereignissen zu viel<br />
herauszulesen. So widerlegt ein einzelner<br />
kalter, nasser Sommer auch nicht den langfristigen<br />
Erwärmungstrend. Die Ausreißer<br />
werden herausgemittelt aus der Statistik.<br />
Daher ist Vorsicht geboten, wenn man<br />
zu schnell <strong>vom</strong> Wetter auf das Klima<br />
schließt und verkündet: Die Dürre, das<br />
kann doch nur der Klimawandel sein.<br />
Gleichwohl lässt der Dauersommer zumindest<br />
erahnen, was langfristig auf uns<br />
zukommen könnte, wie wir in 50 oder<br />
70 Jahren vermutlich leben werden. <strong>Der</strong><br />
Sommer <strong>2018</strong> könnte im Jahr 2100 als nor-<br />
14 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>