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Kultur<br />
Herkunft »bedenklich«<br />
Zeitgeschichte In deutschen Wohnzimmern stehen immer noch Tausende<br />
Antiquitäten, die jüdischen Familien geraubt wurden.<br />
Nun erforschen Historiker die sogenannte M-Aktion der Nationalsozialisten.<br />
S<br />
chon vor mehr als 50 Jahren,<br />
beim Hochzeitsfest von Helene<br />
und Herbert Fischer im ostfriesischen<br />
Wittmund, hatte die Terrine<br />
auf dem Tisch gestanden, eine ovale Schüssel<br />
aus Porzellan, mit gold-blauem Rand,<br />
den Deckel zierten herzförmige Blätter.<br />
Seither benutzte das Ehepaar an allen Feiertagen<br />
diese Terrine – bis zu jenem Sonntag<br />
im Frühjahr 2011, als Helenes heute<br />
95-jährige Mutter zu Besuch war, plötzlich<br />
auf die Schüssel zeigte und sagte: »Das<br />
kommt von den Juden.«<br />
Die Fischers erfuhren, dass das Stück<br />
von einem Schiff aus den Niederlanden<br />
stammte, das im Sommer 1943 im Hafen<br />
des <strong>No</strong>rdseeörtchens Bensersiel angelegt<br />
hatte. Die Ladung: große Mengen Hausrat,<br />
darunter Antiquitäten, Teppiche und Musikinstrumente,<br />
Lampen und Geschirr. Auf<br />
manchen Tellern befanden sich noch Essensreste.<br />
Es handelte sich um Beute aus einem<br />
Massenraub. Bereits in den Dreißiger -<br />
jahren hatten die Nazis im Zuge der so -<br />
genannten Arisierung Geschäfte mit dem<br />
Eigentum jüdischer Familien gemacht. Von<br />
1942 an weiteten sie den Handel auf das<br />
von ihnen besetzte Europa aus. Im Rahmen<br />
der »M-Aktion« (Möbelaktion) konfiszierten<br />
die Deutschen in Frankreich und<br />
den Beneluxstaaten das Inventar von fast<br />
70 000 Wohnungen.<br />
Die jüdischen Eigentümer waren in der<br />
Regel kurz zuvor in die Vernichtungslager<br />
Osteuropas deportiert und dort ermordet<br />
worden. Bis 1944 füllte das Diebesgut rund<br />
eine Million Kubikmeter Frachtraum. Es<br />
gelangte in Güterwaggons und per Schiff<br />
nach Hitler-Deutschland, wo die Bevölkerung<br />
in Scharen zu den Verkaufsaktionen<br />
strömte.<br />
<strong>No</strong>ch heute finden sich Tausende Beute -<br />
stücke in deutschen Haushalten, in Antiquitätengeschäften<br />
und Museen. Aber nur<br />
wenig ist über ihre Herkunft bekannt. Wer<br />
weiß schon zweifelsfrei, woher das von<br />
der Großmutter geerbte Silberbesteck<br />
stammt? Oder Großvaters Nussholzsekretär?<br />
Oder das Teeservice der Tante?<br />
Im öffentlichen Bewusstsein sind die<br />
Plünderungen der M-Aktion kaum präsent.<br />
Auch die Aufmerksamkeit der deutschen<br />
Provenienzforschung, also der Erkundung<br />
von Herkunft und Verbleib geraubter<br />
Kunst, galt bisher vor allem den<br />
alten oder neuen Meistern, etwa der<br />
Münchner Sammlung Gurlitt, nicht aber<br />
Möbeln oder Alltagsgegenständen.<br />
Die umfassende Aufarbeitung der M-Aktion<br />
steht bis heute aus, auch noch 20 Jahre<br />
nach der Unterzeichnung der »Washingtoner<br />
Erklärung«. Darin versprachen 1998<br />
Vertreter aus 44 Nationen, darunter<br />
Deutschland, im Nationalsozialismus geraubte<br />
Kunstwerke zu identifizieren und<br />
zurückzuerstatten. Ein Jahr später bekräftigten<br />
Bund und Länder ihren Willen »zur<br />
Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt<br />
entzogenen Kulturgutes, insbesondere<br />
aus jüdischem Besitz«.<br />
Erst seit 2008 fördert die Bundesregierung<br />
die deutsche Provenienzforschung<br />
auch mit Geldmitteln. Doch von den bislang<br />
insgesamt 272 finanzierten Projekten<br />
befassten sich gerade mal drei mit der M-<br />
Aktion. Dabei sei deren Aufarbeitung eine<br />
118 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>