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Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

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Kultur<br />

Herkunft »bedenklich«<br />

Zeitgeschichte In deutschen Wohnzimmern stehen immer noch Tausende<br />

Antiquitäten, die jüdischen Familien geraubt wurden.<br />

Nun erforschen Historiker die sogenannte M-Aktion der Nationalsozialisten.<br />

S<br />

chon vor mehr als 50 Jahren,<br />

beim Hochzeitsfest von Helene<br />

und Herbert Fischer im ostfriesischen<br />

Wittmund, hatte die Terrine<br />

auf dem Tisch gestanden, eine ovale Schüssel<br />

aus Porzellan, mit gold-blauem Rand,<br />

den Deckel zierten herzförmige Blätter.<br />

Seither benutzte das Ehepaar an allen Feiertagen<br />

diese Terrine – bis zu jenem Sonntag<br />

im Frühjahr 2011, als Helenes heute<br />

95-jährige Mutter zu Besuch war, plötzlich<br />

auf die Schüssel zeigte und sagte: »Das<br />

kommt von den Juden.«<br />

Die Fischers erfuhren, dass das Stück<br />

von einem Schiff aus den Niederlanden<br />

stammte, das im Sommer 1943 im Hafen<br />

des <strong>No</strong>rdseeörtchens Bensersiel angelegt<br />

hatte. Die Ladung: große Mengen Hausrat,<br />

darunter Antiquitäten, Teppiche und Musikinstrumente,<br />

Lampen und Geschirr. Auf<br />

manchen Tellern befanden sich noch Essensreste.<br />

Es handelte sich um Beute aus einem<br />

Massenraub. Bereits in den Dreißiger -<br />

jahren hatten die Nazis im Zuge der so -<br />

genannten Arisierung Geschäfte mit dem<br />

Eigentum jüdischer Familien gemacht. Von<br />

1942 an weiteten sie den Handel auf das<br />

von ihnen besetzte Europa aus. Im Rahmen<br />

der »M-Aktion« (Möbelaktion) konfiszierten<br />

die Deutschen in Frankreich und<br />

den Beneluxstaaten das Inventar von fast<br />

70 000 Wohnungen.<br />

Die jüdischen Eigentümer waren in der<br />

Regel kurz zuvor in die Vernichtungslager<br />

Osteuropas deportiert und dort ermordet<br />

worden. Bis 1944 füllte das Diebesgut rund<br />

eine Million Kubikmeter Frachtraum. Es<br />

gelangte in Güterwaggons und per Schiff<br />

nach Hitler-Deutschland, wo die Bevölkerung<br />

in Scharen zu den Verkaufsaktionen<br />

strömte.<br />

<strong>No</strong>ch heute finden sich Tausende Beute -<br />

stücke in deutschen Haushalten, in Antiquitätengeschäften<br />

und Museen. Aber nur<br />

wenig ist über ihre Herkunft bekannt. Wer<br />

weiß schon zweifelsfrei, woher das von<br />

der Großmutter geerbte Silberbesteck<br />

stammt? Oder Großvaters Nussholzsekretär?<br />

Oder das Teeservice der Tante?<br />

Im öffentlichen Bewusstsein sind die<br />

Plünderungen der M-Aktion kaum präsent.<br />

Auch die Aufmerksamkeit der deutschen<br />

Provenienzforschung, also der Erkundung<br />

von Herkunft und Verbleib geraubter<br />

Kunst, galt bisher vor allem den<br />

alten oder neuen Meistern, etwa der<br />

Münchner Sammlung Gurlitt, nicht aber<br />

Möbeln oder Alltagsgegenständen.<br />

Die umfassende Aufarbeitung der M-Aktion<br />

steht bis heute aus, auch noch 20 Jahre<br />

nach der Unterzeichnung der »Washingtoner<br />

Erklärung«. Darin versprachen 1998<br />

Vertreter aus 44 Nationen, darunter<br />

Deutschland, im Nationalsozialismus geraubte<br />

Kunstwerke zu identifizieren und<br />

zurückzuerstatten. Ein Jahr später bekräftigten<br />

Bund und Länder ihren Willen »zur<br />

Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt<br />

entzogenen Kulturgutes, insbesondere<br />

aus jüdischem Besitz«.<br />

Erst seit 2008 fördert die Bundesregierung<br />

die deutsche Provenienzforschung<br />

auch mit Geldmitteln. Doch von den bislang<br />

insgesamt 272 finanzierten Projekten<br />

befassten sich gerade mal drei mit der M-<br />

Aktion. Dabei sei deren Aufarbeitung eine<br />

118 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>

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