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Der Spiegel Magazin No 32 vom 04. August 2018

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Gesellschaft<br />

»Alles tut weh«<br />

Gesundheit Ein Mediziner berichtet, was er als Vertretungsarzt<br />

in einem Hamburger Problemviertel erlebt.<br />

<strong>Der</strong> 63-jährige Arzt, der anonym bleiben<br />

möchte, fuhr zu Beginn seiner Karriere als<br />

<strong>No</strong>tarzt in einem Krankenwagen, später<br />

wurde er Chirurg in einer Klinik und danach<br />

Mannschaftsarzt eines Profiteams.<br />

Beim SPIEGEL arbeitete er als Dokumentationsjournalist<br />

an Gesundheitsthemen.<br />

Seit 2014 vertritt er regelmäßig niedergelassene<br />

Allgemeinmediziner in unterschiedlichen<br />

Stadtteilen – und erfährt dabei konkret,<br />

wie Krankheit und Gesundheit auch<br />

<strong>vom</strong> Wohnort abhängen.<br />

I<br />

mmer dann, wenn ich einen Patienten<br />

gründlicher untersuchen will, wird ein<br />

Balken auf meinem Computer rot,<br />

eine Art Wecksignal. Heißt für mich: Die<br />

zehn Minuten, die pro Behandlung ausreichen<br />

müssen, sind schon wieder um. Die<br />

Arzthelferin steckt dann manchmal den<br />

Kopf durch die Tür, schaut mich streng an<br />

und mahnt missbilligend: Das Wartezimmer<br />

sei gerappelt voll. Ich selbst lasse<br />

mich davon nicht aus der Ruhe bringen,<br />

doch manche Patienten reagieren genervt.<br />

Aber klar ist: Bei rund 40 Pa tienten pro<br />

Tag geht es nicht anders. Die Praxis ist<br />

völlig überlaufen, morgens stehen die<br />

Kranken schon vor der Tür Schlange.<br />

Die meisten wohnen in den Hochhäusern<br />

ringsum. Wer einen Job hat, verdient<br />

oft wenig. Viele sind jedoch arbeitslos, leben<br />

von Hartz IV oder haben nur eine<br />

kleine Rente. Armut ist hier kein Schlagwort,<br />

es trifft auf viele dieser Menschen<br />

zu. Meine Erfahrung ist: Je ärmer, desto<br />

kränker sind die Leute. Und sie sterben<br />

auch früher.<br />

RUSSLAN / DER SPIEGEL<br />

Ich begegne oft großer Unwissenheit,<br />

besonders was den eigenen Körper betrifft.<br />

Viele Menschen trinken zu viel Alkohol,<br />

rauchen zu viel, ernähren sich ungesund.<br />

Das ist der Unterschied zu eher bürgerlichen<br />

Stadtteilen, in denen ich auch schon<br />

praktiziert habe.<br />

Warnungen sind meist nutzlos. Ich hatte<br />

mal einen Patienten, der ständig wegen<br />

chronischer Bronchitis in die Praxis kam.<br />

»Das Rauchen bringt Sie noch um«, ermahnte<br />

ich ihn, aber er hörte kaum zu. Er<br />

wusste zwar, woher seine Beschwerden kamen,<br />

konnte aber einfach nicht aufhören.<br />

Irgendwann hatte er ein Lungenemphysem,<br />

da war es zu spät. Bei Patienten wie ihm<br />

mache ich stets einen gründlichen Gesundheitscheck<br />

und konfrontiere die Betroffenen<br />

dann ganz nüchtern mit ihren Risiken,<br />

wenn sie weiter so leben. Doch nur die<br />

wenigsten ändern daraufhin ihr Verhalten,<br />

halten Diät oder treiben Sport, leider.<br />

Die Ergebnisse des riskanten Lebenswandels<br />

sehe ich täglich: Herzinfarkte<br />

durch krankhaftes Übergewicht, schwere<br />

Diabetes infolge von viel zu viel Zucker,<br />

Leberschäden durch exzessiven Alkoholmissbrauch,<br />

körperlicher, sozialer und<br />

psychischer Verfall durch langjährigen<br />

Konsum illegaler Drogen. Ab vierzig wird<br />

es dann für viele eng, da macht der Körper<br />

die Strapazen nicht mehr mit. Als<br />

Arzt bleibt mir oft nur, Symptome zu lindern,<br />

das ist verdammt unbefriedigend.<br />

Manche wollen überhaupt nicht aufwendig<br />

behandelt werden, sie wollen nur ein<br />

Rezept, eine Krankmeldung oder eine<br />

Überweisung, und das ohne langes Nachfragen.<br />

Oft lohnt es sich jedoch, genau hinzusehen.<br />

Bei einer jungen Frau, die immer über<br />

Kopf- und Rückenschmerzen klagte, dabei<br />

äußerst deprimiert wirkte, hatte ich stets das<br />

Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als<br />

ich sie nach den blauen Flecken auf ihren<br />

Armen fragte, fing sie plötzlich an zu weinen<br />

und berichtete mir, dass ihr Freund sie immer<br />

wieder brutal schlage, die Kinder auch.<br />

Zur Polizei wollte sie aber nicht. Er schlage<br />

ja nur, wenn er getrunken habe, wiegelte sie<br />

ab. In Wahrheit stecke in ihm ein guter Kern.<br />

Tatsächlich war sie auf den Mann angewiesen.<br />

Die gemeinsame Wohnung lief auf seinen<br />

Namen, sie sah keine Alternative. Ich<br />

bat meine Helferin, ihr die Telefonnummer<br />

eines Frauenhauses zu geben.<br />

Privatpatienten verirren sich nur selten<br />

in die Praxis, die machen um den sozialen<br />

Brennpunkt einen großen Bogen. Natürlich<br />

haben wir eine Zweiklassenmedizin.<br />

Das spüre ich immer, wenn einer meiner<br />

Patienten einen Termin beim Facharzt<br />

braucht, das dauert oft Monate. Ein älterer<br />

Rheumakranker musste sich fast ein Jahr<br />

gedulden. Das wurmt mich. Ist doch klar:<br />

Weil Spezialisten wie Rheumatologen<br />

rund die Hälfte ihrer Einnahmen von Pri-<br />

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