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Gesellschaft<br />
»Alles tut weh«<br />
Gesundheit Ein Mediziner berichtet, was er als Vertretungsarzt<br />
in einem Hamburger Problemviertel erlebt.<br />
<strong>Der</strong> 63-jährige Arzt, der anonym bleiben<br />
möchte, fuhr zu Beginn seiner Karriere als<br />
<strong>No</strong>tarzt in einem Krankenwagen, später<br />
wurde er Chirurg in einer Klinik und danach<br />
Mannschaftsarzt eines Profiteams.<br />
Beim SPIEGEL arbeitete er als Dokumentationsjournalist<br />
an Gesundheitsthemen.<br />
Seit 2014 vertritt er regelmäßig niedergelassene<br />
Allgemeinmediziner in unterschiedlichen<br />
Stadtteilen – und erfährt dabei konkret,<br />
wie Krankheit und Gesundheit auch<br />
<strong>vom</strong> Wohnort abhängen.<br />
I<br />
mmer dann, wenn ich einen Patienten<br />
gründlicher untersuchen will, wird ein<br />
Balken auf meinem Computer rot,<br />
eine Art Wecksignal. Heißt für mich: Die<br />
zehn Minuten, die pro Behandlung ausreichen<br />
müssen, sind schon wieder um. Die<br />
Arzthelferin steckt dann manchmal den<br />
Kopf durch die Tür, schaut mich streng an<br />
und mahnt missbilligend: Das Wartezimmer<br />
sei gerappelt voll. Ich selbst lasse<br />
mich davon nicht aus der Ruhe bringen,<br />
doch manche Patienten reagieren genervt.<br />
Aber klar ist: Bei rund 40 Pa tienten pro<br />
Tag geht es nicht anders. Die Praxis ist<br />
völlig überlaufen, morgens stehen die<br />
Kranken schon vor der Tür Schlange.<br />
Die meisten wohnen in den Hochhäusern<br />
ringsum. Wer einen Job hat, verdient<br />
oft wenig. Viele sind jedoch arbeitslos, leben<br />
von Hartz IV oder haben nur eine<br />
kleine Rente. Armut ist hier kein Schlagwort,<br />
es trifft auf viele dieser Menschen<br />
zu. Meine Erfahrung ist: Je ärmer, desto<br />
kränker sind die Leute. Und sie sterben<br />
auch früher.<br />
RUSSLAN / DER SPIEGEL<br />
Ich begegne oft großer Unwissenheit,<br />
besonders was den eigenen Körper betrifft.<br />
Viele Menschen trinken zu viel Alkohol,<br />
rauchen zu viel, ernähren sich ungesund.<br />
Das ist der Unterschied zu eher bürgerlichen<br />
Stadtteilen, in denen ich auch schon<br />
praktiziert habe.<br />
Warnungen sind meist nutzlos. Ich hatte<br />
mal einen Patienten, der ständig wegen<br />
chronischer Bronchitis in die Praxis kam.<br />
»Das Rauchen bringt Sie noch um«, ermahnte<br />
ich ihn, aber er hörte kaum zu. Er<br />
wusste zwar, woher seine Beschwerden kamen,<br />
konnte aber einfach nicht aufhören.<br />
Irgendwann hatte er ein Lungenemphysem,<br />
da war es zu spät. Bei Patienten wie ihm<br />
mache ich stets einen gründlichen Gesundheitscheck<br />
und konfrontiere die Betroffenen<br />
dann ganz nüchtern mit ihren Risiken,<br />
wenn sie weiter so leben. Doch nur die<br />
wenigsten ändern daraufhin ihr Verhalten,<br />
halten Diät oder treiben Sport, leider.<br />
Die Ergebnisse des riskanten Lebenswandels<br />
sehe ich täglich: Herzinfarkte<br />
durch krankhaftes Übergewicht, schwere<br />
Diabetes infolge von viel zu viel Zucker,<br />
Leberschäden durch exzessiven Alkoholmissbrauch,<br />
körperlicher, sozialer und<br />
psychischer Verfall durch langjährigen<br />
Konsum illegaler Drogen. Ab vierzig wird<br />
es dann für viele eng, da macht der Körper<br />
die Strapazen nicht mehr mit. Als<br />
Arzt bleibt mir oft nur, Symptome zu lindern,<br />
das ist verdammt unbefriedigend.<br />
Manche wollen überhaupt nicht aufwendig<br />
behandelt werden, sie wollen nur ein<br />
Rezept, eine Krankmeldung oder eine<br />
Überweisung, und das ohne langes Nachfragen.<br />
Oft lohnt es sich jedoch, genau hinzusehen.<br />
Bei einer jungen Frau, die immer über<br />
Kopf- und Rückenschmerzen klagte, dabei<br />
äußerst deprimiert wirkte, hatte ich stets das<br />
Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als<br />
ich sie nach den blauen Flecken auf ihren<br />
Armen fragte, fing sie plötzlich an zu weinen<br />
und berichtete mir, dass ihr Freund sie immer<br />
wieder brutal schlage, die Kinder auch.<br />
Zur Polizei wollte sie aber nicht. Er schlage<br />
ja nur, wenn er getrunken habe, wiegelte sie<br />
ab. In Wahrheit stecke in ihm ein guter Kern.<br />
Tatsächlich war sie auf den Mann angewiesen.<br />
Die gemeinsame Wohnung lief auf seinen<br />
Namen, sie sah keine Alternative. Ich<br />
bat meine Helferin, ihr die Telefonnummer<br />
eines Frauenhauses zu geben.<br />
Privatpatienten verirren sich nur selten<br />
in die Praxis, die machen um den sozialen<br />
Brennpunkt einen großen Bogen. Natürlich<br />
haben wir eine Zweiklassenmedizin.<br />
Das spüre ich immer, wenn einer meiner<br />
Patienten einen Termin beim Facharzt<br />
braucht, das dauert oft Monate. Ein älterer<br />
Rheumakranker musste sich fast ein Jahr<br />
gedulden. Das wurmt mich. Ist doch klar:<br />
Weil Spezialisten wie Rheumatologen<br />
rund die Hälfte ihrer Einnahmen von Pri-<br />
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