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Gesellschaft<br />
stands, mit 21 jüngster Landtagsabgeordneter,<br />
mit 25 nordrhein-westfälischer FDP-<br />
Generalsekretär, mit 30 Generalsekretär<br />
der Bundespartei und schließlich, mit 34,<br />
Vorsitzender der FDP Deutschland. Es<br />
war immer so, als hätte er einige Klassen<br />
übersprungen.<br />
Ein gutes halbes Jahr ist es nun her, dass<br />
die Sondierungsgespräche für eine sogenannte<br />
Jamaikakoalition gescheitert sind.<br />
Christian Lindner hätte wieder einmal einen<br />
Rekord brechen können, diesmal als jüngster<br />
Finanzminister der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Aber vier Wochen nach Beginn<br />
der Gespräche, in der Nacht <strong>vom</strong> 19.<br />
auf den 20. <strong>No</strong>vember 2017, trat er vor die<br />
Kameras und las einen Satz ab, der ihn seitdem<br />
wie kein anderer verfolgt: »Es ist besser,<br />
nicht zu regieren, als schlecht zu regieren.«<br />
Überall wird ihm seither die Frage gestellt,<br />
warum er sich um die Verantwor tung<br />
gedrückt habe. Hat er sich nicht getraut?<br />
Er betritt das Restaurant im Westflügel<br />
des Reichstags. Er hat jetzt Zeit. Es gibt<br />
nicht mehr so viele Termine. Ab und zu<br />
muss er eine Rede im Bundestag halten,<br />
das kostet ihn keine Anstrengung. Es ist<br />
der Mittwoch nach der großen Krise der<br />
neuen Regierung über den Streit in der<br />
Asylpolitik, in dem Horst Seehofer zuerst<br />
seinen Rücktritt als Innenminister und<br />
CSU-Vorsitzender androhte, dann aber<br />
doch lieber Minister bleiben wollte.<br />
Lindner wirkt aufgekratzt. Er mag es,<br />
wenn sich dieser Tage jemand damit lächerlich<br />
macht, dass er sein Amt unbedingt<br />
behalten will. Es rückt seinen eigenen<br />
Rückzug in ein besseres Licht. Er ist jetzt<br />
der, der nicht alles macht für ein Amt.<br />
»Stellen Sie sich mal vor«, sagt Christian<br />
Lindner, »wenn wir jetzt zusammen mit<br />
den Grünen in der Regierung wären. Wie<br />
sollten wir dann eine gemeinsame Position<br />
mit den Grünen finden, die ja als Letzte<br />
in Europa die alte, unkontrollierte Flüchtlingspolitik<br />
von Merkel vertreten?«<br />
Er setzt sich an einen der ersten Tische<br />
gleich neben dem Eingang, wo alle vorbeikommen<br />
müssen, Minister, Staatssekretäre,<br />
Journalisten. Er grüßt alte Bekannte quer<br />
durch den Raum. Martin Schulz humpelt<br />
vorbei, er hat sich verletzt, und Lindner<br />
nutzt die Gelegenheit, sich lauthals nach<br />
seinem Befinden zu erkunden. Einem Parteifreund,<br />
den er im Gespräch mit einem<br />
»Focus«-Journalisten sieht, ruft er zu, wenn<br />
er am Wochenende etwas Schlechtes im<br />
»Focus« lese, wisse er, wer die Quelle war.<br />
An diesem Mittag genügt Lindner vollkommen<br />
sich selbst. Er wirft einen Blick in die<br />
Karte. »Jetzt bestellen wir erst einmal eine<br />
Flasche Riesling«, sagt er.<br />
Er schaut einen an, als habe er eben<br />
einen Witz gemacht und warte jetzt darauf,<br />
dass man lacht. War natürlich nicht ernst<br />
gemeint. Eine Flasche Wein? Mittags? Im<br />
Bundestagsrestaurant? Er verweist darauf,<br />
»Es geht nicht um die<br />
Geschwindigkeit,<br />
sondern um das Gefühl,<br />
schnell zu sein.«<br />
wie absurd er die Karte hier findet. »Die<br />
ganze erste Seite: nur Alkoholika«, sagt<br />
er. <strong>Der</strong> Kellner kommt. Lindner bestellt<br />
eine Cola light.<br />
Später, als das Essen serviert wird (Lindner<br />
hat Wiener Schnitzel bestellt, »ohne<br />
die Kartoffeln«), wendet sich Lindner dem<br />
geplanten Treffen in Düsseldorf zu, das<br />
mit seinem Porsche.<br />
»Haben Sie feuerfeste Unterwäsche?«,<br />
fragt Lindner.<br />
Er lacht.<br />
War natürlich wieder ein Scherz. »Wissen<br />
Sie«, sagt Lindner, »mein Porsche fährt<br />
gar nicht so schnell, nach heutigen Maßstäben,<br />
er ist nämlich ein historisches Modell.«<br />
Aber was versteht Lindner unter schnell?<br />
Lindner lacht wieder.<br />
Cem Özdemir, sein Kollege von den<br />
Grünen, erzählt er dann, habe ihm einmal<br />
gesagt, er würde ihn mit seinem Elektroauto<br />
abhängen, wenn er mal neben ihm<br />
an der Ampel stünde. Eine lustige Vorstellung,<br />
findet Linder. »Aber für Ampelspielchen«,<br />
sagt er, »sind wir ja viel zu alt.«<br />
<strong>Der</strong> Abbruch der Jamaikaverhandlungen<br />
war nicht das erste Mal, dass Christian<br />
Lindner ein Amt, das er haben konnte, ausgeschlagen<br />
hat. 2005 sollte er FDP-Frak -<br />
tionschef im nordrhein-westfälischen Landtag<br />
werden, aber er fand, das Amt komme<br />
mit 26 zu früh. »Das füllst du mit 26 nicht<br />
aus«, sagte er damals zu sich, »nach einem<br />
halben Jahr wäre die Neugier auf einen jungen<br />
Chef verbraucht gewesen.« Auch 2011<br />
lehnte er ab, obwohl der damalige Parteichef<br />
Guido Westerwelle erwartet hatte,<br />
dass Lindner seine Nachfolge antreten würde.<br />
Lindner war damals <strong>32</strong>, aber wieder<br />
fürchtete er, noch zu jung zu sein. In seiner<br />
Vorstellung wäre das so gewesen: »Eine<br />
schwere Limousine fährt vor dem Kanzleramt<br />
vor, der Parteivorsitzende der FDP<br />
steigt aus – und sieht wie ein Klassensprecher<br />
aus.« Das wollte er sich ersparen.<br />
Sein verstorbener Parteifreund Jürgen<br />
Möllemann nannte ihn einmal gönnerhaft<br />
»Bambi«. Lindner war damals 21 Jahre alt,<br />
gerade zum Landtagsabgeordneten gewählt<br />
worden und wollte wissenschafts -<br />
politischer Sprecher werden. »Er rief mich<br />
morgens um 6.30 Uhr an«, erinnert sich<br />
Lindner, »und sagte: ›Ja, Mensch, Bambi,<br />
das ist ja ganz niedlich, dass Sie das werden<br />
wollen. Aber als jüngster Abgeordneter<br />
stehen Sie doch den Kindergärten am<br />
nächsten. Machen Sie doch Kindergartenpolitik.‹«<br />
Lindner hat immer gehofft, die<br />
Anekdote ein für alle Mal hinter sich zu<br />
lassen, aber er muss feststellen, dass das<br />
Bild haften geblieben ist, auch über den<br />
Wahltag hinaus. Es sei, sagt er, immer noch<br />
Teil jeden Porträts über ihn. Kindergartenpolitik.<br />
Während die meisten Menschen<br />
damit zu kämpfen haben, dass ihre Karriere<br />
sie schneller altern lässt, hat Lindner<br />
das gegenteilige Problem: Er altert seiner<br />
Karriere nicht schnell genug hinterher.<br />
Wenn man ihn fragt, warum er Ämter<br />
nicht annehme, wenn er sie haben kann,<br />
sagt Christian Lindner: »Ich muss wissen,<br />
dass es auf jeden Fall funktioniert.«<br />
Er hat mit seinem Porsche die Ausfahrt<br />
verlassen und fährt kurz darauf an seinem<br />
Stammsupermarkt vorbei, einem Rewe<br />
City. Als er den Rewe passiert, hebt er unwillkürlich<br />
die Hand, es ist nicht ganz klar,<br />
wen oder was er da aus seinem Porsche heraus<br />
entdeckt haben will, aber Christian<br />
Lindner wartet nicht, bis man ihm die Frage<br />
stellt. »Beim Rewe da«, sagt er, »der kleine<br />
Junge, der verkauft immer dieses Obdachlosenmagazin,<br />
da hab ich ihm gewinkt.«<br />
Einem Journalisten seinen Porsche zu<br />
zeigen ist nicht ohne Risiko. Gerade für<br />
ihn. Die Klischees sind so schön naheliegend:<br />
der Porsche, der Yuppie, die FDP.<br />
Auf seiner Website ist Lindner neben einem<br />
Rennwagen im Rennanzug zu sehen,<br />
daneben der Satz: »Mein Lieblingsthema<br />
abseits der Politik: alles, was mit Benzin<br />
betankt werden kann.«<br />
Wichtig, sagt Christian Lindner, sei ihm,<br />
dass man ihn beziehungsweise ihn und seine<br />
Leidenschaft zum Automobil ernst nehme.<br />
Nicht dass es am Ende so aussieht, als<br />
sei er ein Angeber. Als tue er nur so.<br />
Es ist ihm zum Beispiel daran gelegen,<br />
dass man den grundsätzlichen Unterschied<br />
zwischen seinem Porsche und, sagen wir,<br />
einem Ferrari oder Maserati versteht.<br />
»Diese Autos basieren auf schierer Leistung«,<br />
sagt Lindner. »Auf einfach nur: Gib<br />
ihm, viele Zylinder, Hubraum, PS. <strong>Der</strong><br />
klassische Porsche dagegen basiert auf<br />
Leichtbau, gutem Handling und angemessener<br />
Leistung.« Außerdem müsse man<br />
wissen, dass der 911er »ein Konzept aus<br />
den Sechzigerjahren« sei und auf dem VW-<br />
Käfer basiere. Es stammt also praktisch<br />
von einem Auto für jedermann ab. »Gleiche<br />
Grundidee«, sagt Lindner, »luftgekühlter<br />
Heckmotor.« Er verweist auch optisch<br />
auf die »Familienähnlichkeit« der Autos<br />
mit den hochgestellten Kotflügeln und den<br />
runden Augen. »Es ist ein Jahrhundertkonzept.<br />
Man kann sehr viel Auto- und Kultur -<br />
geschichte an diesem Auto sehen.«<br />
Er spricht ernsthaft von der Bewahrung<br />
der »Artenvielfalt« von Autos auf deutschen<br />
Straßen. Es ist eigentlich egal, ob<br />
man mit Christian Lindner über Autos<br />
redet, über die Zuverdienstgrenzen bei<br />
Hartz IV oder über die Besetzung der<br />
Krim. Er weiß über alles Bescheid. Er<br />
54 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>