Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES<br />
FDP-Chef Lindner bei Sondierungsgesprächen in Berlin 2017: Echte Niederlagen hat er nicht erlebt<br />
klingt dabei immer so, als müsste er zeigen,<br />
dass er problemlos Minister für Verkehr,<br />
Soziales und Auswärtiges in einem sein<br />
könnte.<br />
»Ich überleg gerade, wo wir noch schön<br />
rumdüsen können, um nicht zu viel Zeit<br />
zu verbrennen«, sagt Lindner in seinem<br />
Auto. Er entscheidet sich für die A 59.<br />
Auf der A 59 gibt es Passagen ohne Geschwindigkeitsbeschränkung.<br />
Lindner beschleunigt seinen Porsche auf<br />
200 ka-emm-ha.<br />
Vor ihm fährt ein Kombi.<br />
»Ich muss heftig schalten, damit ich<br />
beim Familienkombi dranbleiben kann«,<br />
sagt Christian Lindner.<br />
Er wechselt auf die rechte Spur, ein Audi<br />
zieht an ihm vorbei.<br />
»Da haben wir keine Chance«, sagt<br />
Lindner, »Audi TDI, Turbodiesel. Aber darum<br />
geht’s nicht.«<br />
Es gehe um etwas anderes, sagt Lindner,<br />
nicht um die Geschwindigkeit, sondern um<br />
das Gefühl, schnell zu sein. »Was ich mag,<br />
sind die Rückbeschleunigung und das Geräusch.<br />
Man hat das Gefühl, dass man richtig<br />
schnell unterwegs ist, obwohl man gar<br />
nicht so schnell ist.« Er gibt noch einmal<br />
ordentlich Gas, der Motor röhrt, die Lüftung<br />
beginnt zu pfeifen.<br />
Er überholt einen anderen Porsche, ein<br />
kleines Erfolgserlebnis auf dieser Fahrt.<br />
»Hier ist übrigens, wie Sie gesehen haben,<br />
kein Tempolimit, sonst würden wir das<br />
nicht machen.«<br />
Christian Lindner war einmal dick, jetzt<br />
ist er dünn, auch das ist ein Teil seiner Vergangenheit,<br />
den er in seiner Autobiografie<br />
»Schattenjahre« verarbeitet hat. Er liebte<br />
die Puddingteilchen aus der Bäckerei<br />
seiner Großeltern, mit 14 Jahren hatte er<br />
30 Kilogramm Übergewicht und entschloss<br />
sich abzunehmen, ging joggen und<br />
hungerte sich mit Knäckebrot wieder auf<br />
<strong>No</strong>rmalgewicht herunter.<br />
Es ist nicht die einzige Geschichte im<br />
Leben des Christian Lindner, in der er für<br />
einen Moment die Kontrolle verloren zu<br />
haben schien, das Gefühl für das vernünftige<br />
Maß. Auf dem Gymnasium von Wermelskirchen<br />
war das wohl schon so, wo er<br />
auf dem Schulhof den Satz »Geh mir aus<br />
der Sonne« des griechischen Philosophen<br />
Diogenes an Lehrern ausprobiert haben<br />
soll und der Schulleiter ihn wegen »Gefährdung<br />
des pädagogischen Klimas« vorlud.<br />
Oder bei seiner Zivildienststelle in<br />
Gummersbach, vor der er mit seinem ersten<br />
Porsche 911 vorfuhr. Oder auch zu Beginn<br />
seiner politischen Karriere im nordrhein-westfälischen<br />
Landtag, als er sich<br />
noch Christian W. Lindner nannte, W. für<br />
Wolfgang in Anlehnung an Jürgen W. Möllemann,<br />
den damaligen Wirtschaftsminister.<br />
Wenn Christian Lindner heute für sein<br />
außerordentliches Redetalent gelobt wird,<br />
bedankt er sich nicht einfach. Er antwortet<br />
dann schon mal auf Latein: »Poetae nascuntur,<br />
oratores fiunt.« Zum Dichter wird<br />
man geboren, zum Redner wird man gemacht.<br />
Es ist schwer zu sagen, was er damit<br />
eigentlich meint. Vielleicht dass er zum<br />
Redner geboren wurde. Oder so.<br />
Im Mai ist Lindner in Frankfurt am<br />
Main zu Gast. Am Morgen ist er auf einer<br />
Podiumsveranstaltung der »Frankfurter<br />
Allgemeinen«, ältere Herren überwiegend,<br />
denen er etwas von der wichtigen Rolle des<br />
Qualitätsjournalismus erzählt, er spricht<br />
ihre Sprache, er benutzt, als er <strong>vom</strong> Chefredakteur<br />
spricht, das Kürzel »V.i.S.d.P.«,<br />
das für »Verantwortlich im Sinne des Presserechts«<br />
steht und Insiderwissen demonstriert.<br />
Am Nachmittag spricht er in der<br />
Universität Frankfurt, ein übervolles<br />
Auditorium, mehrere Hundert Studenten.<br />
Er benutzt wieder die Sprache seiner Zuhörer,<br />
die diesmal durchschnittlich 40 Jahre<br />
jünger sind als die am Morgen, aber<br />
auch das beherrscht er. Er spricht von<br />
Digitalisierung, von Blockchain und den<br />
großen Unternehmen des Digitalzeitalters,<br />
Google, Apple, Facebook, Amazon, die<br />
er, wie unter Eingeweihten üblich, nur<br />
kurz GAFA nennt.<br />
Man würde ihm in solchen Momenten<br />
wünschen, dass er auch mal staunen<br />
kann. Dass er sich einfach hinsetzt und<br />
anderen Leuten zuhört. Dass er schlauer<br />
aus einem Saal rausgeht, als er reinkam.<br />
Aber so etwas erlebt man mit Christian<br />
Lindner nicht.<br />
Vor drei Jahren hat er im Düsseldorfer<br />
Landtag eine viel beachtete Rede über das<br />
Scheitern gehalten, mehrere Hunderttausend<br />
Klicks auf YouTube. Es hieß damals,<br />
so echt, so ehrlich, so spontan habe man<br />
Lindner selten erlebt. Eine Zeitung schrieb<br />
sogar, er habe sich damit zum »Schutzheiligen<br />
der Gescheiterten« gemacht. Seine<br />
Klage darüber, dass man in Deutschland<br />
nicht scheitern dürfe, weil man keine<br />
zweite Chance bekomme, schien von<br />
Herzen zu kommen. Er trat als Mann auf,<br />
der Scheitern erlebt haben will, 2001,<br />
als der Softwareentwickler Moomax,<br />
55