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Deutschland<br />
anwältin beschrieben hat – so aktiv – das<br />
will er nicht stehen lassen: Ja, sie habe von<br />
allem gewusst und sich auch beteiligt. Und<br />
wenn er ein neues Video brauchte, für die<br />
eigene Lust oder als Porno-Tauschware im<br />
Darknet, habe sie es geliefert.<br />
»Aber ich war die treibende Kraft«, sagt<br />
Christian L. »Ich bin der Haupttäter, keine<br />
Frage.« Es sei »schlimm, dass die Frau T.<br />
jetzt hier sitzt und alles verloren hat, wegen<br />
mir«.<br />
Das kann das Gericht glauben, muss es<br />
aber nicht.<br />
Eine Treppe führt ins Obergeschoss eines<br />
Bahnhofs in Zürich, zu Forio, dem Forensischen<br />
Institut Ostschweiz. Sexualstraf -<br />
täter finden hier Beratung und Therapie.<br />
Monika Egli-Alge, die Gründerin, arbeitet<br />
auch mit Frauen. Als Rechtspsychologin<br />
hat sie schon viele begutachtet.<br />
Die Frau als Komplizin sei ein gut belegtes<br />
Muster bei Sexualstraftäterinnen, in<br />
etwa einem Drittel aller Fälle begehen<br />
Frauen die Delikte gemeinsam mit einem<br />
männlichen Partner, sagt Egli-Alge. »Dass<br />
Frauen nur aus Hörigkeit daran teilnehmen,<br />
ist ein typisch männliches Klischee.«<br />
Aber auch manchen Feministinnen falle<br />
es bis heute schwer zu akzeptieren, dass<br />
Frauen nicht immer nur Opfer seien.<br />
Egli-Alge erinnert sich an eine Klientin,<br />
Single, schön, gebildet, Ende dreißig. Das<br />
Gericht hatte sie zu ihr geschickt: »Sie war<br />
in eine Art Sekte geraten, alles drehte sich<br />
um sexuelle Befreiung.« Die Frau zwang<br />
einen ihrer kleinen Söhne zuzuschauen,<br />
wie sie sich befriedigte. Er musste sie manuell<br />
und oral befriedigen, ihr Dildos einführen.<br />
Bilder davon schickte sie an den<br />
Sektenguru. »Es war nicht ihre Idee, aber<br />
sie fand diese Spiele sexuell hoch erregend.<br />
Fünf Jahre lang ging es so. Inwiefern<br />
das pädophil war oder eine<br />
Folge sexueller Enthemmung, konnten<br />
wir nie klären.«<br />
Die Frau wurde zu einer Bewährungsstrafe<br />
verurteilt. Bei einem<br />
Mann als Täter wäre das Urteil wohl<br />
kaum so milde ausgefallen. »Die Mutterschaft<br />
verstärkt den Heiligenschein<br />
der Frau«, sagt Egli-Alge. »Bei Vätern<br />
haben wir es eingepreist, nach dem<br />
Motto: Männer tun’s, Frauen nicht<br />
und Mütter schon gar nicht.«<br />
Und was ist mit der angeborenen<br />
Mutterliebe? »Die gibt es nicht«, sagt<br />
Egli-Alge. »Was es gibt, ist die gesetzliche<br />
Fürsorgepflicht. Mit dem Muttermythos<br />
müssen wir aufräumen.«<br />
Eine sexualisierte Beziehung zum<br />
eigenen Kind könne sich früh entwickeln:<br />
»Da ist so viel Nacktheit, eine<br />
intime Welt zwischen Säugling, Kleinkind<br />
und Mutter. Mütter wickeln und<br />
waschen, säubern die Geschlechtsteile<br />
von Babys, müssen am winzigen<br />
Die Mutter weist<br />
den Jungen zurecht.<br />
Er solle sich<br />
nicht so anstellen.<br />
Penis die Vorhaut zurückziehen.« Viele<br />
Übergriffe spielten sich in einer Phase ab,<br />
die sich der Erinnerung entzieht. »Wer soll<br />
später Klage erheben? Die betroffene Person<br />
bestimmt nicht.«<br />
Experten gehen davon aus, dass bei<br />
männlichen Tätern bis zu 90 Prozent aller<br />
Taten unentdeckt bleiben. Bei Frauen dürfte<br />
der Anteil noch deutlich größer sein.<br />
Die Gründe dafür sind vielfältig: »Wenn<br />
Sie einen Mann mit erigiertem Glied am<br />
Wickeltisch oder beim Duschen mit einem<br />
Kind beobachten, geht der Alarm an«, sagt<br />
Egli-Alge. Bei einer Frau falle es äußerlich<br />
nicht auf, wenn sich bei der Pflege des Kindes<br />
mehr abspiele als Fürsorge. Nicht zufällig<br />
seien entsprechende Erinnerungen<br />
von Missbrauchsopfern aus Heimen oft an<br />
Reinigungsrituale gekoppelt.<br />
Bei den Opfern selbst rühre es an ein<br />
machtvolles Tabu, von einer Frau missbraucht<br />
worden zu sein, womöglich von<br />
der eigenen Mutter: »Es ist extrem schambehaftet.«<br />
Auch könnten die kindlichen<br />
Opfer die Grenzverletzung oft nicht als<br />
solche erkennen. »Frauen machen das sehr<br />
subtil. Das Opfer denkt dann, das ist okay,<br />
das machen Erwachsene mit Kindern.«<br />
Ältere Jungen, die zum Opfer einer sexuell<br />
übergriffigen Frau würden, könnten<br />
sich das schwer eingestehen. »Sie sagen<br />
dann eher: Ich wollte das.« <strong>Der</strong> Missbrauch<br />
werde umgedeutet als Männertraum, von<br />
einer reifen Frau in die Sexualität eingeführt<br />
zu werden. Filme wie »Reifeprüfung«<br />
oder Bernhard Schlinks Roman »<strong>Der</strong> Vorleser«<br />
illustrieren dieses sogenannte Lover-<br />
Teacher-Schema.<br />
Liebe sei ein weiterer Grund dafür, weshalb<br />
Taten besonders oft verborgen blieben,<br />
wenn eine Mutter die Täterin ist – die<br />
Liebe des Kindes.<br />
Das wird auch im Freiburger Fall sichtbar:<br />
Eine Polizeibeamtin, die den Kontakt zu<br />
Berrin T.s Sohn hält, berichtet, anfangs<br />
habe der Junge geweint und zurück zu seiner<br />
Mama gewollt. Mittlerweile frage er<br />
nicht mehr nach ihr. Aber gegen sie aus -<br />
sagen wolle er auf keinen Fall.<br />
Eine Szene aus <strong>No</strong>vaks Anklage illustriert<br />
die Loyalität des missbrauchten Kindes.<br />
Festgehalten wurde sie von Kameras,<br />
die ein Freier aus der Schweiz am Tatort<br />
installierte. Mit Christian L. hatte der<br />
Mann eine Art Drehbuch entwickelt:<br />
L. lässt sich von dem Jungen, den Berrin<br />
T. ihm zu einer Bank am Waldrand<br />
gebracht hat, oral befriedigen. Nach einer<br />
Weile springt der Schweizer verabredungsgemäß<br />
im Overall aus dem Gebüsch<br />
und gibt sich als Polizist aus, der den<br />
Jungen erwischt. »Du bist doch Papas<br />
kleine Hure?«, fragt er. »Manchmal«, antwortet<br />
das Kind. »Liebst du Schwänze?«<br />
– »Eigentlich nicht«, er werde dazu gezwungen.<br />
»Und deine Mutter?« – »Die<br />
hat damit nichts zu tun«, versichert das<br />
Kind. »Die macht mir was Gutes zu essen,<br />
die deckt mir immer die Bettsachen auf.<br />
Sie weiß Bescheid, aber eigentlich hat<br />
sie damit nichts zu tun, das ist wirklich<br />
die Wahrheit.«<br />
Da droht der angebliche Polizist,<br />
er werde das Kind ins Heim stecken<br />
und die Mutter ins Gefängnis; das<br />
könne der Junge noch abwenden, indem<br />
er ihn befriedige.<br />
Dazu die Anklage: »Vor diese Wahl<br />
gestellt, fand sich der Junge bereit, an<br />
Jürgen W. den Oralverkehr zu vollziehen.«<br />
Ein Foto liegt auf dem Richtertisch,<br />
es hing in Berrin T.s vermülltem<br />
Wohnzimmer: Berrin T. und Chris -<br />
tian L. mit dem Kind auf einer Wasserrutsche<br />
im Europapark Rust. Mit<br />
dabei: Javier G.-D., ein Spanier. Er<br />
hatte den Ausflug spendiert und bereits<br />
Tausende Euro für den Jungen<br />
bezahlt, bei mehreren Besuchen. Das<br />
Kind nannte ihn »Onkel Luke«.<br />
Dass auch Männer an das Kind herandurften,<br />
die kaum zahlten, habe<br />
Berrin T. gewurmt, berichtet Chris -<br />
tian L. »Sie wollte, dass nur noch der<br />
Spanier kommt.« Vor der ersten Begegnung<br />
mit ihm weinte der Junge.<br />
Da habe Berrin T. ihn zurechtgewie-<br />
42 DER SPIEGEL Nr. <strong>32</strong> / 4. 8. <strong>2018</strong>