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Selbst amputiert<br />
Fernsehkritik Die Dokumentation »Kulenkampffs<br />
Schuhe« porträtiert anhand scheinbar<br />
harmloser Quizshows die Nachkriegszeit.<br />
M<br />
an sieht nur, was man weiß. Dass der ältere Herr,<br />
der da lässig über die Bühne geht, Hans Joachim<br />
Kulenkampff heißt und einst Deutschlands beliebtester<br />
Moderator war: Daran erinnert sich fast jeder, der in<br />
den Sechziger-, Siebziger- oder Achtzigerjahren ferngesehen<br />
hat. Bei Kulenkampffs Quizshow »Einer wird gewinnen«<br />
guckte das halbe Land zu, die ganze Familie. Ein harmloses<br />
Vergnügen, so schien es.<br />
Erst wenn man einige Ausschnitte aus den alten Shows genauer<br />
betrachtet, erkennt man, dass Kulenkampff sich doch<br />
nicht so lässig bewegte. Er hinkte, ganz leicht. Als junger Soldat<br />
hatte er sich vier abgefrorene Zehen selbst amputiert, in<br />
Russland, mit einem Taschenmesser.<br />
Quizfrage für Leser von heute:<br />
Hat der Moderator in seiner Show<br />
über seine Kriegserlebnisse gesprochen?<br />
Und wenn ja: Hat das damals<br />
jemand hören wollen? Und<br />
was bedeuten jahrzehntealte TV-<br />
Shows für die Gegenwart?<br />
Die faszinierende Dokumentation<br />
»Kulenkampffs Schuhe« zeigt<br />
die Spurensuche. Die Kölner Regis -<br />
seurin Regina Schilling, preisgekrönt<br />
für einen Film über die Missbrauchsfälle<br />
an der Odenwaldschule,<br />
erforscht jetzt ein vermeintlich<br />
altbekanntes Kapitel deutscher<br />
Zeitgeschichte, die Nachkriegsära.<br />
Allerdings erzählt sie so radikal<br />
subjektiv, dass sich verblüffende<br />
Erkenntnisse einstellen, für Zuschauer<br />
aller Altersschichten.<br />
Im Film erinnert sich Schilling,<br />
geboren 1962, an die Fernsehhelden<br />
ihrer Kindheit. Kulenkampff,<br />
Hans Rosenthal (»Dalli Dalli«), Peter<br />
Alexander. Die drei Showmaster<br />
gehörten zur selben Generation.<br />
Kulenkampff war Jahrgang 1921,<br />
Rosenthal 1925, Alexander 1926 –<br />
alle alt genug, um durch die Nazizeit<br />
und den Zweiten Weltkrieg<br />
geprägt worden zu sein; jung genug, um nach 1945 ein neues<br />
Leben zu beginnen. »Einer wird gewinnen« statt Endsieg.<br />
»Für mich waren sie Familienmitglieder«, sagt Schilling im<br />
Film über die Moderatoren, »nur viel aufmerksamer und besser<br />
gelaunt.« Viel fröhlicher als der vierte Mann aus jener Generation,<br />
den die Regisseurin porträtiert, ihren eigenen Vater,<br />
Jahrgang 1925, ein Drogeriebesitzer aus dem Rheinland, der<br />
über den Krieg nicht redete: »Ein Schweigen umgab meinen<br />
Vater. Etwas nicht Greifbares, Abweisendes, Verschlossenes.«<br />
Im Film wird das Sortiment seiner Drogerie zum Sinnbild<br />
der Nachkriegszeit, Vergangenheitsbewältigung mit Putzund<br />
Waschmitteln. »Unsere weiße Weste verdanken wir Per-<br />
Sendetermin: Mittwoch, 8. <strong>August</strong>, 22.30 Uhr, im Ersten.<br />
Kultur<br />
Moderator Kulenkampff, Produzent Jente<br />
»Einer wird gewinnen« statt Endsieg<br />
KURT BETHKE / HR / SWR<br />
sil«, hieß es in einer Werbung von damals. Zur Beruhigung<br />
schluckte man Klosterfrau Melissengeist. Die Diagnose »posttraumatische<br />
Belastungsstörung« war noch nicht bekannt.<br />
»Kulenkampffs Schuhe« besteht komplett aus kunstvoll<br />
montiertem Archivmaterial, aus alten Show- und Interview -<br />
sequenzen sowie privaten Super-8-Filmen und Fotos der<br />
Familie Schilling. Einmal hört man Adolf Hitler, einen<br />
Ausschnitt aus der »Reichenberger Rede« von 1938 vor der<br />
Hitlerjugend. »Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes<br />
Leben«, sagt der Diktator – eine Prophezeiung, die sich auch<br />
für die Protagonisten des Films erfüllen sollte. Die Erinnerung<br />
an den Krieg verfolgte sie ihr Leben lang.<br />
Hans Rosenthal, ein Jude, überlebte den Holocaust versteckt<br />
in einer Berliner Gartenlaube, sein Bruder wurde von den Nazis<br />
ermordet. Doch in seinen Shows wirkte Rosenthal wie ein Mann<br />
ohne Vergangenheit. Nur als das ZDF darauf bestand, auch für<br />
den 9. <strong>No</strong>vember 1978, den 40. Jahrestag der Reichspogromnacht,<br />
eine »Dalli Dalli«-Sendung anzusetzen, wagte Rosenthal<br />
subtilen Protest: Er moderierte in schwarzem Anzug.<br />
Kulenkampff konterkarierte die Heile-Welt-Inszenierung<br />
offensiver. Immer wieder machte er in seiner Show Witze<br />
über den Krieg. Es waren oft bitterböse Gags, die die Regisseurin<br />
Schilling als Kind nicht begriffen<br />
hatte, aber in der Dokumentation<br />
umso effektvoller heraus -<br />
arbeitet. Als bei einem Ratespiel<br />
ein paar Pferde auf die Bühne geführt<br />
werden, fragt Kulenkampff:<br />
»Verstehen Sie was von Pferden?<br />
Manche kennen ja Pferde nur in<br />
Dosen.« Und als die Kandidaten<br />
landestypische Getränke ihrer Herkunft<br />
zuordnen müssen, juxt Kulenkampff<br />
bei der Kombination<br />
»Russland« und »Wodka«: »Das<br />
einzige Mal, dass ich es nicht bereue,<br />
in Russland gewesen zu sein.«<br />
Manchmal, auch das zeigt die<br />
Dokumentation, bricht die Fassade<br />
komplett zusammen. Scherzhaft<br />
verdächtigt Kulenkampff einen<br />
Kandidaten, bei einem Spiel gemogelt<br />
zu haben. <strong>Der</strong> Mann bittet um<br />
Entschuldigung mit den Worten:<br />
»Ich habe bei Juden gelernt.«<br />
»Zum Vorschwein kommen«,<br />
mit dieser Formulierung erklärte<br />
Sigmund Freud in seiner »Psychopathologie<br />
des Alltagslebens« unbeabsichtigte<br />
Offenbarungen. »Kulenkampffs<br />
Schuhe« legt eine ganze<br />
Generation auf die Couch – und<br />
ihre Nachkommen gleich mit.<br />
Dokumentationen wie diese werden immer wichtiger. Es<br />
leben nicht mehr viele Zeitzeugen aus der Kriegsgeneration.<br />
Kulenkampff starb vor 20 Jahren, im <strong>August</strong> 1998. Bis zuletzt<br />
hatte er in Talkshows <strong>vom</strong> Krieg erzählt. Martin Jente, Kulen -<br />
kampffs Produzent, der bei »Einer wird gewinnen« als Butler<br />
auftrat, war reservierter. Dass Jente einst Adjutant im Führerhauptquartier<br />
und SS-Hauptscharführer war, wie es im<br />
Film heißt, kam erst lange nach seinem Tod heraus.<br />
<strong>Der</strong> Vater der Regisseurin Regina Schilling starb schon in<br />
den Siebzigerjahren, mit Ende vierzig, Herzinfarkt. Für Fragen<br />
nach seiner Kriegsvergangenheit war es zu spät.<br />
In Erinnerung bleibt der Tochter, wie die Familie samstagabends<br />
gemeinsam vor dem Fernseher saß. <strong>Der</strong> Vater rauchte<br />
und trank ein Bier, es lief Kulenkampff. Martin Wolf<br />
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