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CRESCENDO 6/18 Oktober-November 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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O U V E R T Ü R E<br />

Anruf bei Igor Levit<br />

Der in Berlin lebende und in Russland geborene Pianist äußert sich via Twitter immer wieder politisch.<br />

Nichts weiter als erste Bürgerpflicht, meint er, und will nicht wieder ein Gespräch führen, in dem er<br />

darauf reduziert wird. Genauso gern spricht er nämlich über die Musik.<br />

Genialer Musiker und<br />

kritischer Europäer:<br />

der Pianist Igor Levit<br />

crescendo: Herr Levit, Sie engagieren<br />

sich unter anderem auf Twitter aktiv<br />

gegen rechts. Woher kommt dieses<br />

Bedürfnis nach politischer Artikulation?<br />

Igor Levit: Das kommt so völlig unspektakulär<br />

daher, dass ich glaube, Sie<br />

und jeder andere Bürger haben genau<br />

die gleiche Verantwortung wie ich. Wir<br />

sind Staatsbürger, und ich habe in der<br />

Schule gelernt, dass das oberste Pflicht<br />

ist – nicht nur sein Kreuz zu machen<br />

und dann zu sagen, jetzt macht mal.<br />

Ich sehe, was um mich herum passiert<br />

und ich agiere dementsprechend.<br />

Mehr als das ist es auch nicht.<br />

Aber es wird dadurch besonders, dass<br />

andere öffentliche Personen die Bühne<br />

nicht vergleichbar nutzen.<br />

Die Bühne ist dafür kein exklusiver<br />

Ort. Aber an alle öffentlichen Personen<br />

gerichtet, die bis jetzt eine gewisse<br />

Form von Apathie an den Tag gelegt<br />

haben: Das haben sie sich die längste<br />

Zeit leisten können. Nicht positioniert zu sein und nicht klar zu<br />

agieren, kann man nur so lange, wie die Gesellschaft es einem erlaubt.<br />

Diese Zeit ist vorbei! Wer das jetzt noch nicht begriffen hat,<br />

der wird sehr bald eines Besseren belehrt werden.<br />

In welchem Verhältnis sehen Sie Musik und Politik?<br />

Das ist eine schwierige Frage. Musik kann sicherlich politisch sein.<br />

Aber letztendlich ist es nicht die Musik für sich, sondern immer das,<br />

was wir Menschen daraus machen. Nehmen Sie nur die Neunte Sinfonie<br />

von Beethoven – es gibt wohl kaum ein Stück, das zu so vielen<br />

verschiedenen Dingen missbraucht worden ist.<br />

Sie treten für einen „linken Humanismus“ ein. Was genau verstehen<br />

Sie darunter?<br />

Dass ich es im Privaten ebenso wie in der Öffentlichkeit niemals<br />

akzeptieren werde, dass Menschen die Idee vertreten, es gäbe Menschen<br />

zweiter Klasse. Das fängt bei kleinen Witzen am Abendbrottisch<br />

an bis hin zur öffentlichen Abwertung.<br />

Nach Ihrer Nationalität gefragt, war Ihre Antwort einmal „Europäer“.<br />

Wäre das heute immer noch dieselbe?<br />

Fügen Sie das Wort „kritischer“ hinzu. Aber: ja.<br />

Welche Rolle spielt in Ihrem Leben der Humor?<br />

Eine riesengroße. Aber ich habe gerade keinen. Mir hat ein Kabarettistenfreund<br />

mal geschrieben: Wir müssen so lange kämpfen, bis<br />

wir wieder einfach nur lustig sein und entspannt über Musik und<br />

Kunst reden können.<br />

Lassen Sie uns das jetzt versuchen, wenn auch zu einem sehr<br />

ernsten Thema. Sie haben Ihr neues Album Ihrem verstorbenen<br />

Freund Hannes Malte Mahler gewidmet und es „Life“ genannt.<br />

Was ist in den vergangenen zwei Jahren<br />

passiert?<br />

Es ging um nichts anderes als um einen<br />

totalen Neuaufbau für mich. Sie müssen<br />

sich klarmachen: Hannes war nicht<br />

nur mein bester Freund. Er war außerhalb<br />

meiner Familie der wichtigste<br />

Mensch in meinem Leben. Er war wie<br />

ein Bruder für mich und die engste Bezugsperson,<br />

die ich jemals hatte. Durch<br />

seinen Tod war all das auf einmal nicht<br />

mehr da und ich stand vor der Frage: In<br />

welche Richtung geht es jetzt? Wer bist<br />

du jetzt überhaupt?<br />

Tatsächlich liest sich das Programm<br />

auf dem Doppelalbum entsprechend<br />

existenziell. Die Stücke reichen von<br />

Bachs Chaconne bis zu Bill Evans<br />

Peace Piece. Was ist die Idee dahinter?<br />

Ich habe für dieses Album „Lebensfeierwerke“<br />

ausgewählt, die zutiefst<br />

menschliche Zustände beschreiben und<br />

mit denen ich sehr viel verbinde. Die<br />

Grundidee des Albums ist die Frage:<br />

Wie geht der Mensch damit um, wenn plötzlich existenzielle Fragen<br />

gestellt werden, es um Verlust geht, um den Tod oder die Liebe?<br />

Jedes Stück auf dem Album feiert das Leben auf seine ganz eigene<br />

Art. Das Herzstück des Programms ist Mensch von Frederic Rzewski.<br />

Es ist das einzige Stück, das wirklich unmittelbar mit Hannes verbunden<br />

ist.Ein sehr zentrales Werk ist aber auch die Fantasia after<br />

J. S. Bach von Busoni. Darin gedenkt Busoni zwar seines kurz vorher<br />

verstorbenen Vaters, gleichzeitig blickt er aber auch lebendig in die<br />

Zukunft. Die dunkelste Komposition dieses Albums sind sicher die<br />

Geistervariationen von Robert Schumann. Hier ist Schumann nur<br />

noch in sich selbst gefangen und kommt aus dieser Verfassung nicht<br />

mehr he raus. Auch das ist ein Zustand, den ich beim Verarbeiten<br />

des Todes von Hannes erlebt habe.<br />

Welche Rolle hat dabei die Musik gespielt?<br />

Überhaupt keine. Die Vorstellung, Musik könne helfen, war für<br />

mich grotesk. Mir hat nichts geholfen, außer Menschen. Und ich<br />

kann Ihnen versichern: Nichts, gar nichts von meiner Traurigkeit<br />

und meinem Unverständnis über diesen Verlust ist weniger geworden.<br />

Ich kann damit umgehen, ich kann damit leben lernen. Aber<br />

trotzdem bin ich genauso sauer wie vorher. Dennoch ist die Musik<br />

auf dem Album keine Therapie, sondern eher das Dokument eines<br />

inneren Zustandes. Ich bin sowieso dagegen, Musik<br />

irgendwelche Richtungen vorzugeben. Das<br />

halte ich für zutiefst unmusikalisch.<br />

■<br />

„Life“, Igor Levit (Sony)<br />

Dorothea Walchshäusl<br />

FOTO: HEJI SHIN / SONY MUSIC ENTERTAINMANT<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Oktober</strong> – <strong>November</strong> 20<strong>18</strong>

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