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CRESCENDO 6/18 Oktober-November 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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O P U S K L A S S I K<br />

FOTO: MICHA NEUGEBAUER<br />

INSTRUMENTALIST | GITARRE<br />

DIE GEZUPFTE<br />

ORGEL<br />

FRANK BUNGARTEN entdeckt das<br />

Gitarrenwerk des „letzten Wiener Virtuosen“,<br />

Johann Kaspar Mertz.<br />

Sie könnten Brüder im Geiste sein, der in Pressburg geborene,<br />

wohl größte Gitarrenvirtuose des 19. Jahrhunderts, Johann Kaspar<br />

Mertz, und der gegenwärtige Meister dieses Instruments,<br />

Frank Bungarten. Beide suchen nach vollkommen neuen Ausdrucksmöglichkeiten<br />

für das Instrument, erweitern seinen Tonumfang<br />

und versuchen, die Grenzen des Spielbaren auszuloten.<br />

Kein Wunder also, dass Bungarten sich nun dieses „letzten Wiener<br />

Virtuosen“ angenommen hat.<br />

Mit unglaublich warmem Ton, präziser Technik und Mut zur<br />

Melancholie hat Bungarten neben den sechs Schubert’schen Liedern<br />

auch Mertz’ Trois Morceau, einige der Bardenklänge und<br />

seine Bearbeitung von Verdis Ernani-Ouvertüre aufgenommen.<br />

Dafür hat der Gitarrenmeister die Kontragitarre ausgewählt,<br />

gefertigt nach einer exemplarisch erhaltenen historischen Vorlage<br />

von Johann Gottfried Scherzer. Sie verfügt über einen zweiten<br />

Hals und eine Reihe zusätzlicher Basssaiten. Gerade dieser<br />

Bass macht die nun preisgekrönte Aufnahme in glänzender<br />

MDG-Qualität aus!<br />

Bungarten, der bereits vielfach ausgezeichnet ist, besticht in<br />

seinen Konzerten und seinen Aufnahmen nicht allein durch<br />

seine einfühlsame Virtuosität, sondern auch dadurch, dass er<br />

immer wieder hinabsteigt in die oft vergessenen Winkel der<br />

Musikgeschichte. Mit Mertz hebt er nun einen faszinierenden<br />

Musiker ins Rampenlicht: Als er nach Wien zog, nahm das allgemeine<br />

Interesse an der Gitarre gerade wieder ab, von Konzertauftritten<br />

konnte der Ausnahmemusiker nicht mehr leben, er<br />

war gezwungen, auch zu unterrichten, und bearbeitete – den<br />

Moden der Zeit entsprechend – zahlreiche Werke großer<br />

Meister wie eben Verdi oder Schubert.<br />

Mertz’ anspruchsvolle Kompositionen<br />

waren zum großen Teil für<br />

eine zehnsaitige Gitarre mit den<br />

zusätzlichen Saiten D-C-H-A<br />

be stimmt (die in der Regel leer<br />

gezupft wurden). So wird das<br />

Instrument zum Teil zu einem<br />

großen Orchester, oder, wie<br />

Bungarten in seiner Aufnahme<br />

hören lässt, zu einer gezupften<br />

Orgel, wenn er Mertz’ Orgelfuge<br />

nach Johann Georg Albrechtsberger<br />

interpretiert.<br />

Frank Bungarten hat auch mit<br />

dieser Einspielung unter Beweis<br />

gestellt, dass die Gitarre ein Lebensgefühl<br />

ist, gleichsam zur individuellen<br />

Adaption großer Meister wie zur<br />

eigenständigen Suche zutiefst<br />

sehnsüchtiger Musik.<br />

Aktuelle CD:<br />

„Vienna. Fin de siècle“,<br />

Barbara Hannigan,<br />

Reinbert de Leeuw<br />

(Alpha)<br />

SOLISTISCHE EINSPIELUNG/GESANG<br />

ORATORIEN/KONZERT/LIED<br />

MIT STIMME,<br />

HAUT UND HAAREN<br />

BARBARA HANNIGAN stellt Bergs Lulu in ein<br />

Spiegelkabinett mit George Gershwin und Luciano Berio.<br />

Barbara Hannigan ist selbst so etwas wie ein „Crazy Girl Crazy“ – eine<br />

fast anarchische Sängerin, die ihre Charaktere durch ihre Stimme bis auf<br />

die Knochen entkleidet. Für ihr gleichnamiges Album hat Hannigan, die<br />

als exzessive Lulu überall auf der Welt Erfolge feiert, ein „Spiegelkabinett“<br />

des Weibes in der Musik an sich vorgelegt: Visionen von Frauencharakteren<br />

am Abgrund der Existenz, im andauernden Ausnahmezustand<br />

und in größtmöglicher Eskalation. Im Zentrum stehen dabei drei Werke:<br />

Teile aus Luciano Berios Sequenza III, natürlich Alban Bergs Lulu-Suite und<br />

George Gershwins Girl Crazy-Suite.<br />

Auf den ersten Blick scheint es nicht leicht, diese Werke in einen<br />

Bogen zu bringen. Auf den zweiten durchaus: Gemeinsam mit ihren<br />

Freunden aus dem Ludwig Orchester, das Hannigan dirigiert, während sie<br />

singt, entsteht ein Kaleidoskop des Existenziellen. Und musikhistorische<br />

Zusammenhänge sind durchaus erkennbar: So haben Gershwin und Berg<br />

einander nicht nur geschätzt, sondern auch gemeinsam Tennis gespielt,<br />

und Berios Stimme in Sequenza III erscheint plötzlich als Widerhall Lulus<br />

in unserer Zeit.<br />

Hannigan selbst beschreibt die Lulu als „ultimativen Freigeist“, als<br />

„Frau, deren Präsenz überwältigend ist, die uns zu Stärke und Wagemut<br />

inspiriert und gerade in ihrem Schmerz zu strahlen scheint.“ Das eigentliche<br />

Kommunikationsmittel ihrer Lulu ist für Hannigan weniger der Körper<br />

als vielmehr ihre Stimme: Sie schreit, sie reibt die Konsonanten, sie<br />

zischt – und atmet dann wieder unendliche Legatobögen. Vokalakrobatik<br />

und Gesang als Seelenspiegel.<br />

Am Ende dreht sich in dieser Aufnahme alles um diese Lulu-Suite, zu<br />

der die anderen Werke wie Kommentare erscheinen, als Spiegelbilder<br />

eines der facettenreichsten Operncharaktere. Gemeinsam mit ihrem<br />

Co-Arrangeur Bill Elliott hat sie unter anderem George und Ira Gershwins<br />

Song But Not for Me zu einem fast wagnerhaften Klangrausch umgeschrieben.<br />

Im Gegenüber zur Lulu-Suite entsteht so ein wahnsinnig<br />

erscheinender Seelenwandel, eine ureigene Stimmung wie in einer<br />

Nachtbar, in der das benebelte Extrakt des Menschen irgendwann allein<br />

an einer Bar sitzt und die Gespenster des Geistes Revue passieren lässt.<br />

Es ist die Ambition, die dieses Album (und eigentlich jede Arbeit und<br />

Interpretation von Hannigan) ausmacht. Der Mut, Musik vollkommen<br />

neu zu denken und an jenen Rand zu treiben, an dem das alte Ideal der<br />

Schönheit einem neuen weicht: der Schönheit des Existenziellen, des<br />

„So-und-nicht-anders“, eines „Mit-Haut-und-Haaren-Gefühls“.<br />

FOTO: ELMER DE HAAS<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — Verlags-Sonderveröffentlichung zum OPUS KLASSIK 20<strong>18</strong>

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