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CRESCENDO 6/18 Oktober-November 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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K Ü N S T L E R<br />

D<br />

FOTO: MONICA MENEZ<br />

ie üppige Lockenpracht ist nicht das Einzige, was<br />

Robin Ticciati mit Simon Rattle verbindet. Beide<br />

stammen aus England, sind international gefragte Dirigenten und<br />

können auch Schlagzeug spielen. Doch während sich Rattle kürzlich<br />

von den Berliner Philharmonikern nach London verabschiedet hat,<br />

ist Ticciati, seit Herbst 2017 Chefdirigent des Deutschen Symphonie-<br />

Orchesters Berlin, erst jetzt richtig in der Stadt angekommen.<br />

„Bis zum letzten Sommer bin ich viel gependelt, es war auch meine<br />

Abschiedssaison als Chef des Scottish Chamber Orchestra in Edinburgh“,<br />

sagt er. „Jetzt kann ich mich<br />

endlich ganz auf mein neues Orchester<br />

konzentrieren, seinen Klang formen.<br />

Mir geht es immer darum,<br />

nach der inneren Wahrheit in der<br />

Musik zu suchen.“<br />

Im Szeneviertel Prenzlauer<br />

Berg wohnt er bereits seit zwei Jahren.<br />

„Ich bin neugierig auf alles, was<br />

Berlin kulturell zu bieten hat“, verrät<br />

er, während er sich grünen Tee<br />

bestellt. „Auch in London, wo ich<br />

aufgewachsen bin, ist das Angebot<br />

groß. Doch hier scheint es mir, als<br />

hätten die Menschen einen noch<br />

direkteren Zugang zur Kultur. So, als<br />

gehöre sie physisch zum Alltag dazu.“<br />

Als Dirigent hat es Ticciati mit<br />

35 Jahren bereits weit gebracht.<br />

Orchester wie die Wiener Philharmoniker,<br />

das Symphonieorchester<br />

des Bayerischen Rundfunks und das<br />

London Symphony Orchestra luden<br />

ihn ein, außerdem gastierte er an der<br />

Mailänder Scala, bei den Salzburger<br />

Festspielen und im Royal Opera<br />

House in London. Seit 2014 ist er in<br />

seiner Heimat Musikdirektor der<br />

MIR GEHT ES IMMER DARUM,<br />

NACH DER INNEREN WAHRHEIT<br />

IN DER MUSIK ZU SUCHEN<br />

Glyndebourne Festival Opera. „Das<br />

Wichtigste ist, seinen eigenen Überzeugungen<br />

treu zu bleiben“, meint er.<br />

„Alles, was man tut, ist das Ergebnis<br />

von Arbeit und Passion.“<br />

Mit dem DSO geht Ticciati ausgiebig<br />

seiner Leidenschaft für französische<br />

Komponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts<br />

nach. Beim Label Linn erschien gerade ein Album mit Maurice<br />

Ravels Zweiter Orchestersuite zu Daphnis et Chloë, den Valses nobles<br />

et sentimentales sowie der sinfonischen Dichtung Aux étoiles und<br />

Liedern von Henri Duparc, interpretiert von der tschechischen<br />

Mezzosopranistin Magdalena Kožená. „Sie verleiht den Stücken<br />

eine besondere emotionale Färbung, das gefällt mir sehr.“ Auf Ticciatis<br />

Debüt-CD mit seinem Berliner Orchester hatte die Ehefrau<br />

von Simon Rattle bereits Ariettes oubliées von Claude Debussy<br />

gesungen. „Ich versuche mit den Musikern immer tiefer in das französische<br />

Repertoire vorzudringen. An Ravels Valses liebe ich diese<br />

Fin-de-Siècle-Atmosphäre“, schwärmt er. „Ich sehe hell erleuchtete<br />

Pariser Straßen vor mir. Das ist für mich ein bisschen wie Oper.“<br />

Musik begleitet den Briten mit italienischen Wurzeln seit seiner<br />

Kindheit. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, spielt aus Leidenschaft<br />

Cello, die Mutter Bratsche. „Bei uns zu Hause wurde eigentlich<br />

immer musiziert“, erinnert er sich. Als Geiger, Pianist und Schlagzeuger<br />

ausgebildet, nahm Ticciati schon mit 15 Jahren den Dirigentenstab<br />

in die Hand. „Dadurch wollte ich der Musik noch näherkommen“,<br />

bekennt er. „Als Dirigent kann man mit einer Geste den<br />

Klang eines ganzen Orchesters verändern. Man muss in der Lage<br />

sein, seinen Körper wie ein Tänzer unter Kontrolle zu halten. In<br />

gewisser Weise ist der Körper also ein Instrument.“<br />

Der in Rom geborene Großvater war Komponist und Arrangeur.<br />

„Als ich in der Stadt zum ersten Mal mit dem Orchestra<br />

dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia auftrat, kamen nach dem<br />

Konzert sechs Namensvettern auf<br />

mich zu und strahlten mich an. Das<br />

war ein besonderes Erlebnis! Auch<br />

wenn meine Eltern Briten sind,<br />

steckt die italienische Kultur irgendwie<br />

in mir.“<br />

Von seinen Mentoren Colin<br />

Davis und Simon Rattle gefördert,<br />

trat Ticciati 2005 als jüngster Dirigent<br />

mit der von Claudio Abbado<br />

gegründeten Filarmonica della Scala<br />

auf. Später dirigierte er an dem<br />

Opernhaus Benjamin Brittens Oper<br />

Peter Grimes. „Das Temperament<br />

der Musiker hat mich sofort angesprochen.<br />

Britten klingt plötzlich ein<br />

bisschen nach Giacomo Puccini.“<br />

Für Abbado, von 1968 bis 1986<br />

Musikdirektor des Opernhauses und<br />

später Vorgänger Rattles bei den<br />

Berliner Philharmonikern, empfindet<br />

Ticciati große Bewunderung.<br />

„Seine Art zu dirigieren hatte vor<br />

allem gegen Ende seines Lebens<br />

etwas sehr Spirituelles. Seine Bewegungen<br />

waren fließend und schön<br />

anzusehen. Er besaß die Gabe,<br />

Orchester dazu zu bringen, für ihn<br />

ihr Bestes zu geben.“<br />

Unter Leitung Ticciatis führte<br />

das Deutsche Symphonie-Orchester<br />

im September beim Musikfest Berlin<br />

mit Gesangssolisten und dem Berliner<br />

Rundfunkchor neben Debussys<br />

Bühnenmusik zu Le martyre de Saint<br />

Sébastien auch eine von Abbado zusammengestellte Suite aus<br />

Richard Wagners Oper Parsifal für Chor und Orchester auf. Werke<br />

von Fauré, Berlioz und Mozart stehen auf dem Programm, wenn<br />

Ticciati im kommenden Januar in der Philharmonie zum fünften<br />

Todestag des großen Dirigenten ans Pult des Chamber Orchestra of<br />

Europe treten wird.<br />

Mit dem DSO widmet er sich in dieser Saison unter anderem<br />

auch Händels Messias, Brahms-Sinfonien oder zeitgenössischen<br />

Stücken, darunter eine Uraufführung von Aribert Reimann. „Mit<br />

dem Orchester will ich in Berlin Teil des großen Ganzen, des kulturellen<br />

Sturms sein“, so Ticciati. Mit seinen Musikern ist er außerdem<br />

auf Tourneen im In- und Ausland zu erleben,<br />

etwa in Köln, Ludwigshafen, Lugano und Lyon.■<br />

Ravel & Duparc: „Aimer et mourir“, Robin Ticciati, Magdalena Kožená,<br />

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin (Linn)<br />

Track 10 auf der crescendo Abo-CD:<br />

„Au pays où se fait la guerre“ von Henri Duparc<br />

<strong>18</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Oktober</strong> – <strong>November</strong> 20<strong>18</strong>

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