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CRESCENDO 6/18 Oktober-November 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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O P U S K L A S S I K<br />

holen – oder ihnen gar einen Plattenvertrag anzubieten.<br />

Diese Zeiten sind vorbei. Die Stadttheater, gefangen in Sparzwängen,<br />

können diesen Aufwand und diese Förderung kaum noch<br />

leisten. Zugegeben, einigen Orchestern gelingt das noch immer,<br />

indem sie ihre Stimmführer in Solokonzerten auftreten lassen und<br />

ihnen die Möglichkeit geben, sich im Rundfunk oder auf CD-Einspielungen<br />

zu behaupten. Grundsätzlich aber ist ein Großteil der<br />

Entdeckungsreise Kultur in Wettbewerbe abgewandert. Und hier<br />

sitzen meist die üblichen Verdächtigen, oft Agenten, die dann wiederum<br />

ihre Spitzenkandidaten an die Orchester oder Bühnen schicken,<br />

wo an einem Nachmittag von GMDs oder Intendanten über<br />

ein Engagement – oder eben keines – entschieden wird.<br />

Auch wenn Wettbewerbe gern den Maßstab der Objektivität<br />

für sich beanspruchen, wenn sie behaupten, dass aus allen Bewerbern<br />

am Ende der oder die Beste ausgewählt<br />

wird, so ist dieses natürlich nur<br />

DAS SPANNENDE IST, DASS<br />

DAS STREITEN UM QUALITÄT<br />

EIN SPANNENDER TEIL DER KUNST<br />

AN SICH IST<br />

ein Teil der Wahrheit. Zahlreiche Wettbewerbe<br />

sind Veranstaltungen arrivierter<br />

Künstler, an deren Ende nicht selten<br />

ihre eigenen Schüler mit dem Preis nach<br />

Hause gehen. Ich selbst war Teil einiger<br />

Jurys, in denen am Ende die Mehrheit<br />

der Teilnehmer mit dem Vorsitzenden<br />

gemeinsame Sache machte und – gegen<br />

das Votum geladener Experten und<br />

Journalisten – die eigenen Schüler ausgezeichnet hat (was mich<br />

dazu bewogen hat, kaum noch in Jurys anwesend zu sein).<br />

Und noch etwas: Der Gewinn eines großen internationalen<br />

Preises mag kurzzeitig Ruhm nach sich ziehen. Dann aber folgt ein<br />

inzwischen fast schon perverser Marktmechanismus, der in der<br />

Regel so aussieht: Auf die Preisträger-CD folgt eine „carte blanche“<br />

für den Künstler, die sich vielleicht nicht mehr so gut verkauft – und<br />

schnell hat die Aufnahme-Karriere ein Ende. Die Liste dieser Künstler<br />

ist lang. 2005 gewann Rafał Blechacz den Chopin-Wettbewerb,<br />

als erster Pole nach Krystian Zimerman. Ein Genie! Seine erste<br />

Aufnahme mit 24 Chopin-Préludes war ein Ereignis. Zwar nimmt<br />

Blechacz noch immer auf, zuletzt 2017 ein durchaus hörenswertes<br />

Album mit Werken von Bach, aber sein Plattenlabel hat kaum noch<br />

Interesse, diesen komplexen, feinsinnigen und vielleicht nicht PRaffinen<br />

Künstler zu vermarkten und zu bewerben. Und so ist auch<br />

ein Rafał Blechacz in der Realität des Alltäglichen angekommen.<br />

Deutlicher noch wird die geschmolzene Halbwertzeit bei Künstlern<br />

wie Ingolf Wunder, der 2010 zwar allgemein als Sieger angenommen<br />

wurde, am Ende aber nur den zweiten Platz belegte, den ersten<br />

bekam stattdessen Julianna Awdejewa. Wunder wurde zwar zum<br />

Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon, ist aber inzwischen<br />

in der Versenkung gelandet. Und auch von Frau Awdejewa hat man<br />

nur mehr wenig gehört.<br />

Natürlich gibt es zahlreiche andere, positive Beispiele von<br />

Musikern, für die Wettbewerbe wegweisend waren: Jessye Norman,<br />

Christoph Eschenbach, Thomas Quasthoff, Christian Tetzlaff oder<br />

Peter Sadlo waren alle Preisträger des ARD-Musikwettbewerbs –<br />

und haben Weltkarrieren hingelegt.<br />

Der Exkurs in die Welt der Klassikwettbewerbe ist vielleicht<br />

nicht ganz unwichtig, wenn wir noch immer vor unserem weißen<br />

Blatt Papier sitzen, um uns einen idealen Musikpreis zu backen.<br />

Die Faszination dieser Wettbewerbe geht in der Regel vom Ringen<br />

darum aus, welcher der vielen guten Musiker denn nun der beste ist.<br />

Mit anderen Worten: Es geht um die Glaubwürdigkeit der Jury und –<br />

im Idealfall – um die Transparenz der Debatte. Ein Literaturwettbewerb<br />

wie der Bachmann-Preis lebt davon, dass eine Jury öffentlich<br />

über die jeweiligen Texte debattiert. Das Spannende ist, dass dem<br />

Publikum klar wird, dass in jeder Jury unterschiedliche Kriterien<br />

aufeinandertreffen, dass das Streiten um Qualität ein spannender<br />

Teil der Kunst an sich ist, dass jede Entscheidung mit anderen Argumenten<br />

auch ganz anders ausfallen könnte – dass ein Großteil der<br />

Kunst subjektiven Kriterien folgt und dass die Spannung darin liegt,<br />

sie öffentlich auszutauschen.<br />

Gleichzeitig gibt es Preise (ohne Wettbewerb), die auch in<br />

der Klassik einen hohen Stellenwert haben. Einer ist etwa der Preis<br />

des Grammophone Magazins, bei dem die Unantastbarkeit der Jury<br />

einen Garant für Qualität darstellt. Oder der Preis, den die Zeitschrift<br />

Opernwelt alljährlich für Produktionen, Sänger, Orchester<br />

und Regisseure verteilt: auf Grundlage einer sehr breit angelegten<br />

Kritikerumfrage.<br />

Wenn wir nun all diese Überlegungen<br />

zusammentragen, entsteht vielleicht<br />

allmählich ein Bild auf unserem weißen<br />

Blatt Papier. Ein neuer Klassikpreis<br />

müsste es schaffen, seine Kriterien transparent<br />

zu machen, hätte die Chance, die<br />

Diskussion um die jeweiligen Leistungen<br />

öffentlich auszutragen und müsste<br />

so angelegt sein, dass er auch nachhaltig<br />

wäre – durch die gezielte, langfristige<br />

Förderung der Preisträger. Hinzu kämen die Kriterien des Anfangs:<br />

Künstler dürfen in einem solchen Preis nicht als „Ware“ angesehen<br />

werden, die bewertet wird, sondern müssten die Chance bekommen,<br />

in ihrer Leidenschaft, in ihrem Denken, in ihrer Arbeit als<br />

Menschen gesehen zu werden.<br />

Und so formt sich auf meinem ganz persönlichen weißen Blatt<br />

ein Preis, der ungefähr so aussehen würde: Eine ausgewogene Jury<br />

(gern aus alten Haudegen, aus Vertretern der Phono- und Veranstaltungsindustrie,<br />

aus ausgewählten Journalisten, aber vielleicht auch<br />

aus Nachwuchskünstlern oder Gesandten von Volkshochschulen<br />

(wie beim Grimme-Preis)) trifft für jede Kategorie eine Vorauswahl<br />

von drei Künstlern, die einem breiten Publikum präsentiert wird.<br />

Wichtig dabei: Sowohl renommierte Künstler als auch Nachwuchskünstler<br />

stehen zu Wahl.<br />

Für die Präsentation in persönlichen Porträts würden sich die<br />

Kulturkanäle der öffentlich-rechtlichen Sender anbieten, Arte oder<br />

3sat. Hier könnten die Künstler in kurzen Porträts vorgestellt werden.<br />

In einer großen Gala im Hauptprogramm käme es schließlich<br />

vor einer prominenten Jury zur Debatte über die einzelnen Künstler.<br />

Dabei hätten die Jurymitglieder Mentorenaufgaben zu übernehmen<br />

und sich zu überlegen, inwiefern sie mit den einzelnen Künstlern<br />

in Zukunft gern zusammenarbeiten würden. Am Ende könnte das<br />

Publikum in die Abstimmung miteinbezogen werden, im Saal oder<br />

vor den Fernsehern. Das würde dafür sorgen, dass Klassik auch wieder<br />

in den Wohnzimmern debattiert würde.<br />

Natürlich ist mir klar, dass mein inzwischen beschriebener<br />

Zettel aus ganz unterschiedlichen Gründen bei vielen Verantwortlichen<br />

sofort in den Mülleimer wandern würde. Weil man den großen<br />

Klassikstars eine Abstimmung nicht zumuten kann, weil einige<br />

Labels sichergehen wollen, dass der Gewinner auch in ihr PR-Konzept<br />

passt. Weil die Bedenken nach einer großen (und langen) Show<br />

der Klassik in vielen Sendern jenseits der Kulturredaktionen für<br />

Skepsis sorgen würde. Und, und, und …<br />

Aber bitte, gerade wenn ein alter Preis durch einen neuen<br />

ersetzt wird, wird man ja wohl träumen dürfen. <br />

n<br />

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