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CRESCENDO 6/18 Oktober-November 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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K Ü N S T L E R<br />

FOTO: WYASTONE ESTATE<br />

DIE KUNST DER<br />

BESCHRÄNKUNG<br />

Der russische Pianist Evgeny Kissin gilt als einer der bedeutendsten Interpreten seiner<br />

Generation. Bei seinem respektablen Repertoire kann er sich Lücken leisten. Muss er.<br />

Denn die Liste der Solo- und Orchesterwerke, die er noch spielen will, ist lang.<br />

VON MARIO-FELIX VOGT<br />

Immer schneller dreht sich das Interpreten-Karussell in den letzten<br />

Jahren. Immer wieder tauchen neue hübsche Gesichter auf,<br />

deren oft mittelmäßige Aufnahmen mit viel Marketing-Aufwand<br />

an den Konsumenten gebracht werden sollen. Und immer wieder<br />

passiert es, dass diese, meist jungen, Künstler wieder in der Versenkung<br />

verschwinden, bevor ihre Karriere überhaupt richtig begonnen<br />

hat. Im Vergleich zu diesen nach Popkriterien gecasteten Musikern<br />

erscheint Evgeny Kissin wie ein Wesen von einem anderen<br />

Stern. Er ist völlig uneitel, sehr auf die Musik fokussiert, die ihn<br />

wirklich interessiert, und versucht nicht, Wissen vorzutäuschen, das<br />

er nicht hat.<br />

Auf die Frage beispielsweise, was er denn von den Klavierwerken<br />

des amerikanischen Minimalisten Philip Glass oder von Crossover-Klassik<br />

hält, gesteht er denn auch freimütig, dass er beides<br />

„ehrlich gesagt nicht kenne“. Auch die Frage, ob er jemals Beethovens<br />

Klaviermusik auf einem historischen Hammerflügel gespielt<br />

habe, verneint er. Kissin zeigt hier, wie wichtig es in der Kunst sein<br />

kann, sich auf bestimmte Dinge zu beschränken, wenn man Großes<br />

erreichen möchte. So habe er auch, anders als die von ihm besonders<br />

geschätzten Beethoven-Interpreten Arthur Schnabel oder<br />

Richard Goode, „niemals daran gedacht, alle 32 Beethoven-Sonaten<br />

aufzunehmen“. Da konzentriert er sich lieber auf einige wenige<br />

Sonatenwerke, in die er sich dann aber versenkt. Beispielsweise in<br />

die Hammerklaviersonate. Mit diesem monumentalen Stück, das<br />

sowohl hinsichtlich Umfang als auch hinsichtlich der wahnwitzigen<br />

pianistischen Anforderungen jeglichen Rahmen sprengt, war er in<br />

den letzten beiden Jahren mehrfach live im Konzert zu erleben.<br />

Die Hauptschwierigkeit bei diesem Werk stellen die rasend<br />

schnellen Tempi dar, die Beethoven für die beiden Ecksätze mit<br />

Metronomzahlen exakt notierte. Wie die meisten seiner Pianistenkollegen<br />

ignoriert der russische Starpianist diese Vorschriften, da<br />

sie schlichtweg „unspielbar“ seien. „Beethoven schrieb diese Sonate,<br />

als er bereits taub war“, erklärt er, „also orientierte er sich bei den<br />

Metronomangaben an dem, was er in seinem Kopf hörte. Er hatte<br />

jedoch keine Gelegenheit zu überprüfen, wie seine Musik in diesen<br />

Tempi wirklich klingen würde.“ Kissin weist in diesem Zusammenhang<br />

darauf hin, dass sich sogar manche großen Komponisten bei<br />

der Interpretation ihrer eigenen Werke nicht an ihre Tempovorschriften<br />

gehalten haben, und nennt Sergej Rachmaninow als prominentes<br />

Beispiel. Mit dessen Préludes kombinierte er die Hammerklaviersonate<br />

im Konzert als Kontrast. Auf ein sehr langes klassisches<br />

Werk folgten dann zehn kurze romantische Stücke.<br />

Evgeny Kissin verfügt über ein umfangreiches Repertoire,<br />

doch ist da eine ganze Reihe an Klavierkonzerten, die er gerne noch<br />

einstudieren möchte. Dazu gehören so bekannte Werke wie Mozarts<br />

frühes Es-Dur Konzert Jenamy, früher Jeunehomme genannt, Liszts<br />

2. Klavierkonzert, das Kissin im nächsten Jahr live spielen wird, Bartóks<br />

Konzerte Nr. 1 und 3 oder Gershwins Rhapsody in Blue, aber<br />

auch selten zu hörende Stücke wie Karol Szymanowskis 4. Sinfonie<br />

für Klavier und Orchester oder die ersten beiden Konzerte des in<br />

deutschen Landen immer noch viel zu unbekannten russischen<br />

Spätromantikers Nikolai Medtner. Natürlich fallen ihm auch etliche<br />

Solowerke ein, die er mit Vergnügen lernen würde. „Allerdings<br />

würde ich mehrere Seiten brauchen, um sie alle zu nennen“, räumt<br />

er ein. „Ich hoffe nur, dass ich lange genug lebe,<br />

um all das spielen zu können, was ich gerne spielen<br />

würde.“<br />

■<br />

Shostakovich: Quartet No. 2, Kissin: Quartett (2016),<br />

Kopelman Quartett (Nimbus Records)<br />

20 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Oktober</strong> – <strong>November</strong> 20<strong>18</strong>

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