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CRESCENDO 6/18 Oktober-November 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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Interviews unter anderem mit Teodor Currentzis, Evgeny Kissin, Adele Neuhauser, Danil Trifonov und Robin Ticciati.

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O P U S K L A S S I K<br />

KAMMERMUSIKEINSPIELUNG | MUSIK 19. JH. / GEM. ENSEMBLE<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

EIN MÄRCHEN<br />

FÜR UNSERE<br />

ZEIT<br />

JÖRG WIDMANNS<br />

Komposition „Es war einmal …“<br />

spielt mit alten Ritualen und<br />

öffnet dennoch neue Welten.<br />

„Es war einmal …“ – so beginnen Märchen,<br />

so beginnen Reisen in vollkommen neue<br />

Welten, so beginnen Geschichten zum<br />

Träumen. Und so beginnt für viele die<br />

Kindheit. Auch für den Klarinettisten und<br />

Komponisten Jörg Widmann: „Märchen<br />

mit ihren archetypischen Figuren und ihren<br />

Märchenformeln wie ‚Und wenn sie nicht<br />

gestorben sind …‘ haben mich, seit ich denken<br />

kann, fasziniert und in Unruhe versetzt“,<br />

sagt er. „Weil sie immer auch Seismograf<br />

unterschwelliger menschlicher Ur-<br />

Ängste und -Wünsche sind.“ Das „Es war<br />

einmal …“-Phänomen hat Widmann bis<br />

heute nicht losgelassen. Ihm geht er in seiner<br />

wunderbar-wundersamen Komposition<br />

nun auf den Grund. Natürlich mit<br />

einem Vorbild im Kopf: Robert Schumanns<br />

Märchenerzählungen.<br />

Das Label myrios classics hat Es war einmal<br />

… mit Widmann selbst, der wunderbaren<br />

Bratschistin Tabea Zimmermann und<br />

dem Pianisten Dénes Várjon aufgenommen.<br />

Widmanns Idee ist, das Märchen aus<br />

unserer Zeit heraus neu zu beleben: Die<br />

„Es war einmal …“-Welt ist für ihn auch<br />

ein Gegenentwurf zu unserer Wirk -<br />

lichkeit, zu dem, was wir Realität nennen,<br />

zu Zwängen und Erwartungen und<br />

gleichsam ein Kosmos dunkler Ab -<br />

gründe, unserer Ängste und Sorgen.<br />

„Als Interpret und als Komponist<br />

habe ich Robert Schumanns<br />

Märchenerzählungen immer als ein<br />

zerrissenes, modernes, komplexes<br />

Stück empfunden“, sagt<br />

Widmann. „Insofern möchte ich<br />

mein eigenes ‚Es war einmal …‘<br />

auch nicht als sentimental-nostalgische<br />

Flucht in lang zurückliegende<br />

Zeiten verstanden wissen, sondern als<br />

naiv-fantastischen Gegenentwurf zu<br />

unserer realen Welt mit all ihren Verwerfungen.“<br />

Genau das macht den Charme dieser<br />

Aufnahme aus. Tabea Zimmermann ist mit<br />

ihrem dunkel-leuchtenden Bratschenton<br />

keine Märchenoma, ebensowenig erzählen<br />

Jörg Widmann mit seinem samt-seidigen<br />

Klarinettenklang und Dénes Várjon mit seinem<br />

singenden Klavier alte Geschichten<br />

wie alte Männer. Im Gegenteil: Es war einmal<br />

… ist eine Komposition, die den Geist<br />

unserer Gegenwart trägt und gleichsam<br />

abtaucht in Welten des rituellen Erzählens<br />

und auch Visionen für ein neues, gegenwärtiges<br />

Märchen entwirft. Der Kontrast zwischen<br />

neuen und alten Märchen, zwischen<br />

Oberfläche und Tiefgang tut sich besonders<br />

dann auf, wenn am Ende der Aufnahme<br />

die alten Märchenbilder von Schumann<br />

in ihrer modernen Zerrissenheit zu<br />

hören sind.<br />

EDITORISCHE LEISTUNG DES JAHRES<br />

MUSIK, DIE NIE<br />

VERGESSEN<br />

WERDEN DARF<br />

HÄNSSLER classic feiert Jubiläum<br />

und wird für die Legends-Edition<br />

mit dem Klavierwerk<br />

Vsevolod Zaderatskys ausgezeichnet.<br />

Wenn ein Preis wie der neue OPUS KLASSIK<br />

einen Sinn hat, dann auch, um Persönlichkeiten<br />

wie Günter Hänssler auszuzeichnen! Der<br />

Musikverleger hat über Jahre hinweg Aufnahmen<br />

auf den Markt gebracht, die unseren Kosmos<br />

ins Unendliche erweitert haben: legendäre<br />

Einspielungen großer Werke, unter anderem<br />

mit Dirigenten wie Helmuth Rilling, Editionen<br />

großartiger Orchester, vor allen Dingen aber<br />

Einspielungen von Komponisten, die viele Menschen<br />

gar nicht auf dem Zettel haben – und die<br />

am Ende gigantische Entdeckungen sind!<br />

Genau eine solche Aufnahme wird nun prämiert:<br />

Die Klavierwerke von Vsevolod Zaderatsky,<br />

herausgekommen in der Legends-Edition<br />

mit Jascha Nemtsov am Klavier. Zaderatskys<br />

Lebenslauf ist der Soundtrack seiner Musik:<br />

Der russische Adelige war Klavierlehrer des<br />

Zarensohns, kämpfte im russischen Bürgerkrieg,<br />

gehörte zum engen Freundeskreis Skrjabins,<br />

wurde als „Volksfeind“ der Sowjets inhaftiert<br />

und kam in den Gulag. Hier komponierte<br />

er seine 24 Präludien für Klavier (in Anlehnung<br />

an den Schostakowitsch-Zyklus) aus Papiermangel<br />

auf Telegrafformularen – für jeweils<br />

zwei Stunden am Tag. Ein Klavier stand ihm<br />

dabei nicht zur Verfügung. Später wurde Zaderatsky<br />

aus dem Gulag entlassen und lebte bis zu<br />

seinem Tod 1953 in Lemberg.<br />

In seine Musik ist das eigene Leben eingeschrieben,<br />

die Wirren der Zeit, die Verzweiflung<br />

und die Hoffnung. All das erzählt der Pianist<br />

Jascha Nemtsov in dieser wunderbaren<br />

und unbedingt hörenswerten Einspielung von<br />

Hänssler classic.<br />

FOTO: HAENSSLER CLASSIC<br />

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