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<strong>DER</strong> MITTELSTAND. 3 | <strong>20</strong><strong>20</strong><br />
SCHWERPUNKT<br />
47<br />
Herr Jerger, wie erleben Sie die aktuelle Situation?<br />
Markus Jerger: Wir erleben gerade historische Zeiten mit außergewöhnlichen<br />
Maßnahmen: Viele Menschen auf der ganzen<br />
Welt sind eingesperrt, und die Einsamkeit, die Isolation, der mangelnde<br />
Kontakt zu Menschen, Umgebung und Natur, bringen viele zur<br />
Verzweiflung und erhöhen die Lautstärke derjenigen, die eine „Rückkehr<br />
zur Normalität“ und „so wie vor Corona“ fordern. Die sogenannte<br />
Normalität, zu der wir zurückkehren möchten, ist jedoch genau der<br />
Grund, warum wir uns in dieser Krise befinden.<br />
Umwelt- und Gesundheitszerstörung, kaum Fördergelder für nachhaltige<br />
Forschung und Entwicklung in Unternehmen, und immer<br />
noch schaffen es zu wenige Lösungen rund um nachhaltige Produktionen<br />
in den Markt. Kapitalmangel oder Bürokratie bremsen die Unternehmer<br />
aus.<br />
Gehen die Restriktionen zu weit?<br />
Diese Frage ist sehr schwierig zu beantworten. In Deutschland stellen<br />
wir fest, dass das Virus nur für einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung<br />
mit hohen medizinischen Komplikationen einhergeht oder<br />
gar tödlich ist. Über andere europäische Länder, aber auch die USA,<br />
wird in den Nachrichten von dramatischen Situationen in den Krankenhäusern<br />
berichtet. Situationen, in denen Ärzte entscheiden müssen,<br />
welche Patienten noch Hilfe „verdient“ haben, und welche Patienten<br />
zum Wohle anderer aufgegeben werden. Ich bin froh, dass wir<br />
diese furchtbare Form der Triage in Deutschland nicht erleben müssen.<br />
Mein besonderer Dank gilt daher dem medizinischen Personal,<br />
das bundesweit hervorragende Arbeit leistet.<br />
BVMW Bundesgeschäftsführer Markus Jerger.<br />
Foto: © BVMW/Annemarie Thiede<br />
Für wie wahrscheinlich halten Sie eine Rückkehr zur Normalität?<br />
In der Frühphase der Virusverbreitung in Deutschland wurden richtige<br />
politische Entscheidungen getroffen, die der Bevölkerung zugute<br />
kamen und die Zahl der parallel Infizierten niedrig gehalten haben.<br />
Diese Zahl ist die entscheidende Kennziffer, die zu beachten ist.<br />
Denn sie stellt fest, ob unser Gesundheitssystem überlastet ist oder<br />
nicht. Klar ist aber auch, dass ein gesellschaftlicher Lockdown, wie<br />
wir ihn derzeit erleben, wirtschaftlich nur für eine sehr begrenzte Zeit<br />
umsetzbar ist. Eine Normalität, wie vor Covid-19, kann und wird es,<br />
wie gesagt, vermutlich über viele Jahre hinaus nicht geben. Es wird<br />
eine andere Normalität sein, mit anderen sozialen Regeln. Aber ich<br />
bin zuversichtlich, dass wir als Gesellschaft lernen werden, gut damit<br />
zu leben.<br />
Kann diese Krise auch eine Chance sein?<br />
Als Unternehmer weiß ich, jede Krise bietet Chancen. Man muss sie<br />
nur zu nutzen wissen. Derzeit produziert die Weltgemeinschaft in<br />
nicht-nachhaltigen Produktionsprozessen billige und oft auch nur<br />
von kurzer Dauer nützliche Güter – oftmals zu Lasten unserer Gesundheit<br />
und unserer Umwelt. Es sind Produkte und Waren, die wir<br />
übermäßig konsumieren, weil sie billig sind und weil wir den Sinn für<br />
das Wesentliche verloren haben. Und weil sie billig sind, landen diese<br />
Produkte oft schon nach Stunden oder Tagen wieder im Müll. Der<br />
deutsche <strong>Mittelstand</strong> darf dabei in vielerlei Hinsicht als positives Gegenbeispiel<br />
genannt werden. Er steht für Qualität und Nachhaltigkeit.<br />
Ich würde mir wünschen, dass der deutsche Verbraucher diese Vorteile<br />
wieder zu schätzen lernt.<br />
Bedeutet das eine Abkehr von unserem bekannten Wirtschaftssystem?<br />
Eine Abkehr keinesfalls. Aber vielleicht sollten wir als Gemeinschaft<br />
unser System hinterfragen, überdenken und etwas justieren. Sehen<br />
Sie, der Planet ist so verschmutzt, dass hierdurch jährlich weltweit<br />
fast fünf Millionen Todesfälle verursacht werden. Das sind vermutlich<br />
weit mehr, als die Coronakrise an Leben kosten wird. Derzeit<br />
investieren die Regierungen aller Länder hunderte Milliarden in die<br />
Bekämpfung der Corona-Pandemie – aber kaum etwas gegen die<br />
Was heißt das konkret für Deutschland?<br />
Die Politik sollte ein innovationsfreundliches wirtschaftliches Umfeld<br />
schaffen. Mutigen Unternehmern darf nicht mit einem Korsett<br />
aus Bürokratie, hohen Unternehmenssteuern und Gründerfeindlichkeit<br />
die Luft abgeschnürt werden. Ein Großteil der Innovationskraft<br />
Deutschlands liegt traditionsgemäß im <strong>Mittelstand</strong>. Um Ihre Frage<br />
nach der Normalität nochmals aufzugreifen: Wollen wir wirklich<br />
zu einer „Normalität“ zurückkehren, die uns direkt in die Gefangenschaft<br />
einer Umwelt-, Wirtschafts-, Klima- und Sozialkrise führt?<br />
Wohl kaum, und deshalb sollten wir, sobald der Sturm vorbei ist, Vorschläge,<br />
die zur Wiederbelebung der Wirtschaft kommen, um neue<br />
nachhaltige, rationale und räsonable Umweltschutz- und Gesundheitsstandards<br />
ergänzen. Die Politik muss hier mitwirken und Anreize,<br />
Fördergelder und Rahmenbedingungen schaffen, die die nachhaltige<br />
Umstellung von Produktion und Konsum erleichtern. Wer der<br />
Umwelt hilft, wird belohnt, wer der Umwelt schadet, richtigerweise<br />
bestraft.<br />
Wie muss also die mittelfristige Zukunft gestaltet werden?<br />
Maßnahmen, die so schnell wie möglich einen unkontrollierten Exit<br />
fordern, bringen uns nur zu der bekannten nicht-nachhaltigen Normalität<br />
zurück. Darüber hinaus führen sie uns mit dem Fuß auf dem<br />
Gaspedal direkt in den nächsten Abgrund – quasi von der Viruskrise<br />
zur Umwelt- und nächsten Überlebenskrise, ebenso wieder weltweit.<br />
Durch das Virus haben wir alle in sehr kurzer Zeit erleben müssen,<br />
wie verwundbar wir alle sind, gesundheitlich, wirtschaftlich und<br />
in freiheitlicher Sicht. Unsere heutigen Probleme stoppen nicht an einer<br />
Grenze. Ob Tschernobyl, Dieselskandal oder Covid-19, wir sitzen<br />
alle im selben Boot.<br />
Lassen Sie uns gemeinsam einen neuen nachhaltigen Weg einschlagen,<br />
unsere Gesellschaft, Wirtschaft Gesundheit und Abhängigkeit<br />
von Lieferketten und Folgeschäden komplett überdenken, jetzt –<br />
denn dies ist wahrscheinlich der beste Zeitpunkt, oder vielleicht auch<br />
unsere letzte Chance.<br />
Das Interview führte Kilian Harbauer, BVMW Referent für Energie,<br />
Nachhaltigkeit, Mobilität und Logistik.