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Nr. 78 - Frühling 2021

Hauts-de-France: musikalische Waldbäder Loire-Tal: im Reich der Blumenkönigin Burgund: ein essbarer Wald Nouvelle-Aquitaine: der Nabel der Welt Provence: die 27100 Jahre alte Hand eines Künstlers Alexandre Dumas: Wie der Vater, der Sohn Chantals Rezept: Crème catalane Produkt: Le parapluie de Cherbourg

Hauts-de-France: musikalische Waldbäder
Loire-Tal: im Reich der Blumenkönigin
Burgund: ein essbarer Wald
Nouvelle-Aquitaine: der Nabel der Welt
Provence: die 27100 Jahre alte Hand eines Künstlers
Alexandre Dumas: Wie der Vater, der Sohn
Chantals Rezept: Crème catalane
Produkt: Le parapluie de Cherbourg

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UNTERWEGS IN FRANKREICH Burgund / Saône-et-Loire<br />

Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen sagen, Sie<br />

müssten sich ab sofort ausschließlich von dem ernähren,<br />

was ein einziges Stück Wald hergibt. Ganz<br />

ohne Zweifel würden Sie sofort protestieren, anführen,<br />

dass Sie keinerlei Absicht hätten, ab sofort auf die Jagd zu<br />

gehen, und noch weniger, sich von Eicheln, Kastanien,<br />

Beeren, Champignons und Wurzeln zu ernähren, selbst<br />

wenn Sie diese selbst aussuchen könnten! Sie würden sicherlich<br />

ergänzen, dass wir es seit Jahrtausenden gewohnt<br />

sind, unsere Nahrung auf Feldern anzubauen und zu ernten<br />

– und nicht in Wäldern! Schließlich haben unsere Vorfahren<br />

dafür im Laufe der Jahrhunderte große Teile der ursprünglichen<br />

Wälder in schwerer körperlicher Arbeit in<br />

riesige Getreidefelder verwandelt, auf denen nun die vielen<br />

einjährigen Pflanzen wachsen, mit denen wir unseren Bedarf<br />

decken. Warum sollten wir das jetzt ändern? Ganz<br />

eindeutig würden Sie also bereits<br />

die Vorstellung, sich von nun an<br />

ausschließlich von einem Wald zu<br />

ernähren, als wenig appetitanregend<br />

weit von sich weisen. Denn<br />

Sie sind überzeugt davon, dass es<br />

in einem Wald nichts – oder zumindest<br />

fast nichts – gibt, was für<br />

die Ernährung eines Menschen<br />

geeignet ist. Diese Vorstellung<br />

sagt einiges über unser Wissen<br />

und unsere Gewohnheiten in Sachen<br />

Landwirtschaft aus.<br />

Und doch gibt es in Burgund heute einen etwas mehr<br />

als zwei Hektar großen Wald, in dem Sie nur den Arm<br />

ausstrecken oder sich bücken müssen, um mehr als 1000<br />

Arten essbarer Pflanzen zu entdecken! Körner, Früchte,<br />

Blätter, Blumen, Beeren, Gewürze, Kräuter und Lianen<br />

wachsen hier in einer unglaublichen Hülle und Fülle und<br />

stellen eine Vielzahl an Nahrungsmitteln dar, deren Geruch,<br />

Konsistenz und Geschmack wir zugegebenermaßen<br />

oft nicht kennen, die aber wirklich wohlschmeckend sind<br />

und anerkannte Nährwerteigenschaften besitzen. Dieser<br />

Wald existierte lange Zeit im Verborgenen, er war sozusagen<br />

das « kleine Geheimnis » des ehemaligen Krankenpflegers,<br />

Fabrice Desjours, der eine Leidenschaft für Reisen<br />

und Botanik hegt. Vor einigen Jahren beschloss er, hier in<br />

Burgund, wo er als Kind seine Ferien verbracht hatte, auf<br />

einer kleinen Parzelle eine nicht alltägliche Anbaumethode<br />

zu testen: den « Waldgarten », auch « essbarer Garten »<br />

genannt. Dieses Konzept hatte ihn auf seinen Reisen im<br />

Ausland, vor allem in tropischen Ländern, fasziniert.<br />

Doch in Frankreich zeigte zu dem Zeitpunkt – außer ein<br />

paar passionierten Botanikern – niemand Interesse für<br />

solche Waldgärten, die demzufolge nahezu unbekannt<br />

waren.<br />

Fabrice Desjours war von dem Prinzip auch deshalb so<br />

angetan, weil es ganz simpel ist: Es geht darum, Bäume<br />

in die Anbaumethoden zu integrieren, mit ihnen – und<br />

nicht ohne sie – zu produzieren und zu leben. Der scheinbar<br />

einfache Ansatz ist jedoch beim näheren Nachdenken<br />

ziemlich revolutionär. Fabrice Desjours wusste, dass unsere<br />

landwirtschaftlichen Methoden auf der entgegengesetzten<br />

Vorgehensweise basieren: Seit Generationen<br />

werden Felder bestellt und nicht Wälder. Den Ansatz des<br />

Waldgartens umzusetzen, bedeutet also, die Grundlagen<br />

unserer heutigen Landwirtschaft infrage zu stellen, die<br />

« Trennung zwischen Wald und Landwirtschaft » rückgängig<br />

zu machen, wie die Forscherin und Ethnobotanikerin<br />

Geneviève Michon im Vorwort des Buches von Fabrice<br />

Desjours (siehe S. 65) schreibt. Denn diese Trennung<br />

hat dazu beigetragen, das Landschaftsbild zu verändern:<br />

« Bis Ende der Sechzigerjahre », so schreibt sie, « gab es in<br />

den ländlichen Gebieten Frankreichs Bäume und Wälder<br />

im Überfluss: Gehölze und Wäldchen, Obstgärten<br />

und hochwachsende Reben, Hecken, Strauchheiden und<br />

Buschwälder, die dem Vieh<br />

offenstanden. Der Baum war<br />

ein unentbehrlicher Verbündeter<br />

der landwirtschaftlichen<br />

Produktion. » Doch die Forscherin<br />

präzisiert, dass dieser<br />

Zustand nicht andauerte: « Der<br />

Politik zur Modernisierung<br />

der Landwirtschaft ist durch<br />

eine Vielzahl von Beihilfen zur<br />

Flurbereinigung, zur Mechanisierung<br />

und zum Einsatz chemischer<br />

Pflanzenschutzmittel<br />

das scheinbar Unmögliche gelungen: den Baum aus der<br />

Agrarlandschaft zu eliminieren. »<br />

Fabrice Desjours war überzeugt davon, dass das Konzept<br />

eines Waldgartens, wie er es in den Tropen kennengelernt<br />

hatte, auch auf europäische Verhältnisse übertragbar<br />

ist. 2010 erwarb er daher eine kahle Wiese mit<br />

einem verdichteten Boden, wie es heute durch maschinelle<br />

Bearbeitung meist der Fall ist. Dort verbrachte er nun<br />

seine ganze Freizeit, pflanzte unermüdlich Tausende von<br />

Bäumen und Büschen sowie unzählige andere Pflanzenarten.<br />

Für die Auswahl der Spezies zog er Kriterien heran,<br />

wie die Eignung für die klimatischen Bedingungen und<br />

die Fähigkeit, sich in ein Ökosystem zu integrieren, das<br />

am Ende quasi ohne Eingriffe existieren sollte. Im Laufe<br />

der Jahre wuchs und gedieh sein Waldgarten, wurde von<br />

Weitem sichtbar. Wie vorgesehen musste Fabrice Desjours<br />

von Jahr zu Jahr weniger bewässern.<br />

Im Waldgarten schützen große Bäume die essbaren<br />

Pflanzen zu ihren Füßen, sorgen für Feuchtigkeit und<br />

Kühle, dienen beispielsweise als Untergrund für Lianen.<br />

Reben, die nicht geschnitten werden, wachsen im Wald<br />

Dutzende Meter in die Höhe und stützen sich dabei an<br />

allen möglichen Büschen und Bäumen ab. Offensichtlich<br />

lieben sie diese neu entdeckte Freiheit, denn sie produzieren<br />

außerordentlich viele Trauben in einer ausgezeichneten<br />

Qualität. Je mehr sich der Wald entwickelt, desto<br />

mehr schützen die Pflanzen sich gegenseitig. Es entsteht<br />

58 · Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2021</strong>

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