UNTERWEGS IN FRANKREICH Burgund / Saône-et-Loire Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen sagen, Sie müssten sich ab sofort ausschließlich von dem ernähren, was ein einziges Stück Wald hergibt. Ganz ohne Zweifel würden Sie sofort protestieren, anführen, dass Sie keinerlei Absicht hätten, ab sofort auf die Jagd zu gehen, und noch weniger, sich von Eicheln, Kastanien, Beeren, Champignons und Wurzeln zu ernähren, selbst wenn Sie diese selbst aussuchen könnten! Sie würden sicherlich ergänzen, dass wir es seit Jahrtausenden gewohnt sind, unsere Nahrung auf Feldern anzubauen und zu ernten – und nicht in Wäldern! Schließlich haben unsere Vorfahren dafür im Laufe der Jahrhunderte große Teile der ursprünglichen Wälder in schwerer körperlicher Arbeit in riesige Getreidefelder verwandelt, auf denen nun die vielen einjährigen Pflanzen wachsen, mit denen wir unseren Bedarf decken. Warum sollten wir das jetzt ändern? Ganz eindeutig würden Sie also bereits die Vorstellung, sich von nun an ausschließlich von einem Wald zu ernähren, als wenig appetitanregend weit von sich weisen. Denn Sie sind überzeugt davon, dass es in einem Wald nichts – oder zumindest fast nichts – gibt, was für die Ernährung eines Menschen geeignet ist. Diese Vorstellung sagt einiges über unser Wissen und unsere Gewohnheiten in Sachen Landwirtschaft aus. Und doch gibt es in Burgund heute einen etwas mehr als zwei Hektar großen Wald, in dem Sie nur den Arm ausstrecken oder sich bücken müssen, um mehr als 1000 Arten essbarer Pflanzen zu entdecken! Körner, Früchte, Blätter, Blumen, Beeren, Gewürze, Kräuter und Lianen wachsen hier in einer unglaublichen Hülle und Fülle und stellen eine Vielzahl an Nahrungsmitteln dar, deren Geruch, Konsistenz und Geschmack wir zugegebenermaßen oft nicht kennen, die aber wirklich wohlschmeckend sind und anerkannte Nährwerteigenschaften besitzen. Dieser Wald existierte lange Zeit im Verborgenen, er war sozusagen das « kleine Geheimnis » des ehemaligen Krankenpflegers, Fabrice Desjours, der eine Leidenschaft für Reisen und Botanik hegt. Vor einigen Jahren beschloss er, hier in Burgund, wo er als Kind seine Ferien verbracht hatte, auf einer kleinen Parzelle eine nicht alltägliche Anbaumethode zu testen: den « Waldgarten », auch « essbarer Garten » genannt. Dieses Konzept hatte ihn auf seinen Reisen im Ausland, vor allem in tropischen Ländern, fasziniert. Doch in Frankreich zeigte zu dem Zeitpunkt – außer ein paar passionierten Botanikern – niemand Interesse für solche Waldgärten, die demzufolge nahezu unbekannt waren. Fabrice Desjours war von dem Prinzip auch deshalb so angetan, weil es ganz simpel ist: Es geht darum, Bäume in die Anbaumethoden zu integrieren, mit ihnen – und nicht ohne sie – zu produzieren und zu leben. Der scheinbar einfache Ansatz ist jedoch beim näheren Nachdenken ziemlich revolutionär. Fabrice Desjours wusste, dass unsere landwirtschaftlichen Methoden auf der entgegengesetzten Vorgehensweise basieren: Seit Generationen werden Felder bestellt und nicht Wälder. Den Ansatz des Waldgartens umzusetzen, bedeutet also, die Grundlagen unserer heutigen Landwirtschaft infrage zu stellen, die « Trennung zwischen Wald und Landwirtschaft » rückgängig zu machen, wie die Forscherin und Ethnobotanikerin Geneviève Michon im Vorwort des Buches von Fabrice Desjours (siehe S. 65) schreibt. Denn diese Trennung hat dazu beigetragen, das Landschaftsbild zu verändern: « Bis Ende der Sechzigerjahre », so schreibt sie, « gab es in den ländlichen Gebieten Frankreichs Bäume und Wälder im Überfluss: Gehölze und Wäldchen, Obstgärten und hochwachsende Reben, Hecken, Strauchheiden und Buschwälder, die dem Vieh offenstanden. Der Baum war ein unentbehrlicher Verbündeter der landwirtschaftlichen Produktion. » Doch die Forscherin präzisiert, dass dieser Zustand nicht andauerte: « Der Politik zur Modernisierung der Landwirtschaft ist durch eine Vielzahl von Beihilfen zur Flurbereinigung, zur Mechanisierung und zum Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel das scheinbar Unmögliche gelungen: den Baum aus der Agrarlandschaft zu eliminieren. » Fabrice Desjours war überzeugt davon, dass das Konzept eines Waldgartens, wie er es in den Tropen kennengelernt hatte, auch auf europäische Verhältnisse übertragbar ist. 2010 erwarb er daher eine kahle Wiese mit einem verdichteten Boden, wie es heute durch maschinelle Bearbeitung meist der Fall ist. Dort verbrachte er nun seine ganze Freizeit, pflanzte unermüdlich Tausende von Bäumen und Büschen sowie unzählige andere Pflanzenarten. Für die Auswahl der Spezies zog er Kriterien heran, wie die Eignung für die klimatischen Bedingungen und die Fähigkeit, sich in ein Ökosystem zu integrieren, das am Ende quasi ohne Eingriffe existieren sollte. Im Laufe der Jahre wuchs und gedieh sein Waldgarten, wurde von Weitem sichtbar. Wie vorgesehen musste Fabrice Desjours von Jahr zu Jahr weniger bewässern. Im Waldgarten schützen große Bäume die essbaren Pflanzen zu ihren Füßen, sorgen für Feuchtigkeit und Kühle, dienen beispielsweise als Untergrund für Lianen. Reben, die nicht geschnitten werden, wachsen im Wald Dutzende Meter in die Höhe und stützen sich dabei an allen möglichen Büschen und Bäumen ab. Offensichtlich lieben sie diese neu entdeckte Freiheit, denn sie produzieren außerordentlich viele Trauben in einer ausgezeichneten Qualität. Je mehr sich der Wald entwickelt, desto mehr schützen die Pflanzen sich gegenseitig. Es entsteht 58 · Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2021</strong>
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