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Nr. 78 - Frühling 2021

Hauts-de-France: musikalische Waldbäder Loire-Tal: im Reich der Blumenkönigin Burgund: ein essbarer Wald Nouvelle-Aquitaine: der Nabel der Welt Provence: die 27100 Jahre alte Hand eines Künstlers Alexandre Dumas: Wie der Vater, der Sohn Chantals Rezept: Crème catalane Produkt: Le parapluie de Cherbourg

Hauts-de-France: musikalische Waldbäder
Loire-Tal: im Reich der Blumenkönigin
Burgund: ein essbarer Wald
Nouvelle-Aquitaine: der Nabel der Welt
Provence: die 27100 Jahre alte Hand eines Künstlers
Alexandre Dumas: Wie der Vater, der Sohn
Chantals Rezept: Crème catalane
Produkt: Le parapluie de Cherbourg

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sondern verifiziert sind und die Handlung untermauert<br />

ist ». Es ist eine ehrliche Art, die Dinge zu präsentieren,<br />

die es dem Leser erlaubt, sich in der Folge ein objektives<br />

Urteil zu bilden.<br />

Der Comic nimmt den Leser in eine maßlose politische<br />

Entscheidung und in ein Bauvorhaben mit, das<br />

in kein Schema passt. Er erzählt vom unglaublichen<br />

Schicksal von Bure, einem sehr kleinen Dorf mit weniger<br />

als 100 Einwohnern, das im Departement Meuse, in der<br />

Region Grand-Est liegt. In den 1990er-Jahren beschloss<br />

der französische Staat, dort ein gigantisches Projekt umzusetzen,<br />

das die Region erschüttern sollte: den Bau eines<br />

der größten Industriestandorte Europas mit dem Namen<br />

Cigéo (Centre Industriel de Stockage Géologique). Das Ziel:<br />

500 Meter unter der Erde Stollen in einer Länge von 265<br />

Kilometern in das Tongestein zu hauen, um dort 85 000<br />

Kubikmeter « Atommüll » aus der französischen Nuklearindustrie<br />

zu lagern. Stollen, länger als die Pariser Metro<br />

… Dieses Gestein, so erfährt man im Comic, soll nach<br />

Expertenmeinung « die Radioaktivität mehr als 100 000<br />

Jahre lang abschirmen ». Die Inbetriebnahme des Endlagers,<br />

dessen Kosten auf 25 bis 35 Milliarden Euro geschätzt<br />

werden, ist für 2035 geplant. Die Gesamtbauzeit<br />

soll nach Hochrechnungen insgesamt 130 Jahre dauern.<br />

So lange dauert es also, um eine Art « Sarkophag für die<br />

Ewigkeit » fertigzustellen …<br />

Die Stärke und Besonderheit dieses Comics liegen<br />

darin, dass er sich nicht darauf beschränkt, das Projekt<br />

und die Bauarbeiten vorzustellen, das haben andere Medien<br />

bereits getan. Er beschäftigt sich<br />

vor allem mit den Menschen vor<br />

Ort und der Art und Weise,<br />

wie ihnen das Vorhaben letzten<br />

Endes aufgezwungen wurde.<br />

Anfänglich durch die komplexe<br />

Thematik überfordert, lernte die<br />

Bevölkerung nach und nach,<br />

sich zu organisieren und Gehör<br />

zu verschaffen. Mithilfe der<br />

präzisen zeichnerischen Umsetzung<br />

durch Cécile Guillard gehen<br />

die Autoren auf die – meist<br />

sogar in Frankreich nicht sehr<br />

bekannten – Informationsveranstaltungen,<br />

Demonstrationen<br />

und Auseinandersetzungen<br />

ein, die vor Ort stattgefunden<br />

haben. Und auf die Praktiken<br />

der Atomindustrie und einiger<br />

Politiker, die nicht davor<br />

zurückschreckten, lokale Investitionsvorhaben<br />

massiv zu<br />

subventionieren oder die Schaffung von Arbeitsplätzen zu<br />

versprechen, um sich die Unterstützung der Bewohner zu<br />

sichern … Man erfährt beispielsweise, dass bereits 2022<br />

im rund 20 Kilometer von Bure entfernten Joinville eine<br />

« besondere » Reinigung eröffnen soll. Diese ist dazu bestimmt,<br />

die Kleidung aus Nuklearanlagen aufzubereiten.<br />

Damit zeichnet sich letzten Endes die Spezialisierung einer<br />

Region ab. Der örtliche Senator macht sich offen zum<br />

Sprachrohr eines noch ambitionierteren Projektes: Die<br />

Departements Meuse und Haute-Marne sollen nach dem<br />

Rhônetal und der Pointe du Cotentin in der Normandie<br />

eine Gegend werden, die sich auf die der Produktion von<br />

Atomstrom nachgelagerten Prozesse spezialisiert. Der<br />

Comic enthüllt damit eine Reihe an Informationen, die<br />

bisher in den traditionellen Medien des Landes niemals<br />

aufgegriffen wurden.<br />

In der Zwischenzeit gehen die Arbeiten in Bure weiter.<br />

Bis zur Stunde wird dort zwar noch kein Atommüll<br />

gelagert, das Bohren der unterirdischen Stollen schreitet<br />

jedoch voran und ein Forschungslabor ist bereits voll einsatzbereit.<br />

Vor Ort finden regelmäßig Demonstrationen<br />

gegen das Projekt statt. Der Staat jedoch scheint bislang<br />

unerschütterlich an dem Projekt festzuhalten. Die Autoren<br />

verhehlen nicht, dass sich die Frage stellt, ob wirklich<br />

eine Wahl besteht. Die französische Atomindustrie<br />

häuft Abfälle an und die Wiederaufbereitungsanlage in<br />

La Hague kann bald keine neuen mehr aufnehmen. Das<br />

Projekt Cigéo scheint also als Lösungsansatz für die Entsorgung<br />

dieser Abfälle unverzichtbar. Dennoch handelt<br />

es sich dabei um eine echte gesellschaftliche,<br />

wenn nicht sogar zivilisatorische<br />

Entscheidung: « Welche<br />

Erde wollen wir den zukünftigen<br />

Generationen hinterlassen? In welcher<br />

Welt wollen wir in 20, in 100<br />

Jahren leben? In 100 000 Jahren? »<br />

Mit diesen Worten endet dieser<br />

wahrhaftig nützliche und mutige<br />

Comic.<br />

Gaspard d’Allens,<br />

Pierre Bonneau und<br />

Cécile Guillard:<br />

Cent mille ans:<br />

Bure ou le scandale enfoui des<br />

déchets nucléaires, La Revue<br />

Dessinée - Seuil, 152 Seiten,<br />

ISBN 9<strong>78</strong>-<strong>2021</strong>458921<br />

Frankreich erleben · <strong>Frühling</strong> <strong>2021</strong> · 83

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