2012-02
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Gesundheit<br />
DES THAI CHI *<br />
auch für den körperlichen. Der Mensch hat sein Zentrum<br />
gefunden und wird immer unverletzlicher, je mehr sein Chi<br />
in ihm wächst. Thai-Chi ist daher außerdem eineArt Selbstverteidigung.“<br />
Ich höre meinem Meister zu, aber es ist schwer, seine<br />
Worte zu verstehen. Er merkt es wohl.<br />
„Du musst Thai-Chi erfahren, im Erfahren verstehen.“<br />
Er beginnt mir langsam eine Bewegung vorzumachen. Ich<br />
versuche, sie nachzuahmen, stümperhaft und unbeholfen.<br />
Er übt mit mir in unendlicher Geduld, und dann beginnt das<br />
in mir zu geschehen, was man nicht in Worte fassen kann.<br />
Beglückt und zuversichtlich schlafe ich am Abend ein. Am<br />
nächsten Morgen erfahre ich in der Thai-Chi-Schule mehr:<br />
Thai-Chi, fälschlicher Weise mit Schattenboxen bezeichnet,<br />
heißt ursprünglich der Dachfirstbalken und bedeutet<br />
soviel wie oberstes Prinzip. Mein Meister wandte sich ihm<br />
einst in einer beruflich bedingten Stresssituation zu, und<br />
Thai-Chi hilft ihm seitdem, mit der beruflichen Belastung<br />
fertig zu werden. Er kennt die Geheimnisse der Familie<br />
Yang, welche nur drei Meisterschülern dieses Wissen übermittelt<br />
hat. Von einem dieser Schüler Meister King Hung<br />
Chu aus London wurde Herr Tjoa in die Familiengeheimnisse<br />
eingeweiht und hat diese später auch an mich weiter<br />
gegeben. Von mir haben es wiederum meine Meisterschüler<br />
übernommen.<br />
Meine Reise nach Stuttgart begann gegen 1980. Doch<br />
meine Reise in die Welt des Thai-Chi geht bis heute weiter.<br />
Sie hat mein Leben verändert. Thai-Chi führt in eine andere<br />
Welt, aber nicht in eine traumhafte, unrealistische Welt<br />
sondern in eine tiefere, wesentlichere Welt. Dafür bin ich<br />
meinem Meister dankbar.<br />
Otto Abt<br />
<strong>2012</strong> Ein Rückblick auf mein Thai-Chi<br />
Kopfschüttelnd mustert mich mit strengem Blick die<br />
Ärztin bei ihrer Untersuchung: „Ich muss Ihnen<br />
sagen: Ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Kommen<br />
Sie nach einer Woche wieder. Dann werde ich noch einmal<br />
messen und Ihnen Medikamente verschreiben.“ Sie kann<br />
meine Gelassenheit überhaupt nicht verstehen und entlässt<br />
mich mit einem vielsagenden Blick, der soviel bedeutet:<br />
Jetzt beginnt meine ärztliche Arbeit. Nach etwa 10 Tagen<br />
stehe ich wieder vor ihr. Sie kann es nicht fassen, der Blutdruck<br />
ist normal. „Waren Sie bei einem anderen Arzt?“ Ich<br />
schüttele verneinend den Kopf.<br />
Nur ich kenne die Ursache meiner Besserung: Ich hatte<br />
nämlich einige Wochen zuvor während einer Reise kein<br />
Thai-Chi geübt und nach meinem ersten Arztbesuch wieder<br />
voller Eifer meine Übungen aufgenommen - mit dem<br />
gerade dargelegten Resultat.<br />
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert praktiziere ich<br />
Thai-Chi, diese langsam ausgeführte, genau festgelegte<br />
sanfte Bewegungsfolge aus China. Die richtungsweisende,<br />
uralte Idee verbirgt sich dahinter, dass man mit<br />
körperlichen Bewegungen sein ganzes Leben beeinflussen<br />
kann. Der Chinese betrachtet nämlich den Menschen<br />
als Ganzes, als Einheit von Geist, Seele und Körper. Wenn<br />
das zutrifft, kann ich mit meinem Bewegungskanon mein<br />
Leben steuern und beeinflussen.<br />
Meine Erfahrung gibt mir die Gewissheit: Mit Thai-Chi<br />
stärke ich meine Lebenskräfte, bringe sie harmonisch in ein<br />
sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis. Davon profitiert<br />
natürlich auch unter anderem meine Gesundheit.<br />
So übt diese Bewegungskunst<br />
noch<br />
heute eine große Zahl<br />
Chinesen, darunter<br />
viele ältere Menschen,<br />
in den Parks, und in<br />
Deutschland wächst<br />
die Zahl der Praktizierenden<br />
ständig.<br />
Allerdings braucht<br />
es ein intensives Studium,<br />
diese Art der<br />
sanften Bewegung zu<br />
erlernen. So nahm ich<br />
regelmäßig bei chinesischen<br />
Meistern aus<br />
London und Stuttgart<br />
Unterricht, bis ich die<br />
Lehrerlaubnis erhielt.<br />
Otto Abt (81) regelmäßige<br />
Übung hält ihn fit<br />
Viele Jahre unterrichtete ich in Siegen z. B. zeitweilig an<br />
der Universität, und meine ehemaligen Schüler haben nunmehr<br />
ihre Lehrtätigkeit aufgenommen.<br />
„Sind Sie gleichsam ein chinesischer Arzt?“ fragt mich<br />
eine Interessentin. Abwehrend hebe ich meine Hände:<br />
„Nein! Ich besitze keinerlei medizinische Kenntnisse. Gesundheit<br />
ist nur ein Nebeneffekt meines Tuns. Ich vollziehe<br />
Thai-Chi, weil diese Bewegung in mir ein gutes Lebensgefühl<br />
entwickelt.“<br />
Otto Abt<br />
*Der Verfasser übt die authentische lange Form der Yang-Familie.<br />
Foto: Gottfried Klör<br />
Das Titelbild zeigt Otto Abt zwischen seinen Meisterschülerinnen Anne Margret Eickhoff und Maria Empting (rechts) auf der Trupbacher Heide<br />
2/<strong>2012</strong> 25 Jahre durchblick 19