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2012-02

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Lyrik<br />

WAS VOM TAGE ÜBRIG BLEIBT<br />

Eine willkürlich aus dem Sortiment gegriffene<br />

Kassette, eingelegt nur um das Kassettenteil<br />

meines neu erworbenen Radiogerätes<br />

zu überprüfen, lässt mich wieder einmal<br />

auf den Grund meiner Erinnerungen tauchen. Ich<br />

bin ihnen ein guter Zuhörer und verfalle immer<br />

öfter ihrem Sirenengesang.<br />

die augen brennen aus<br />

im all der nacht<br />

stumm schreit<br />

erinnerung nach dir<br />

im schwachen schein<br />

brennender bilder<br />

schaust du<br />

nur immer dich<br />

(Heinrich Waegner)<br />

Ich komme mir dann wie aus der Gegenwart<br />

gefallen vor, falle durch sie hindurch, wie durch<br />

einen Tunnel. Der Blick geht weit über den Tag<br />

hinaus, obwohl der unmittelbar vor mir liegende<br />

Weg in nichts als Jetzt gehüllt ist. Mir ist auch<br />

bewusst, dass ich morgen schon wieder eine andere<br />

sein werde als heute, dass das Ich sich immer<br />

wieder in eine neue Wirklichkeit hinein finden<br />

muss. Das Gedächtnis, der intimste Gefährte des<br />

Menschen, wird jeden Tag neu geboren.<br />

In den Erzählungen meiner Erinnerungen bin<br />

ich immer jünger, dem entspricht auch das Bild,<br />

welches ich vor meinem inneren Auge habe.<br />

Schaue ich in den Spiegel, komme ich mir als<br />

Fremde entgegen, aber die Erinnerung lässt sich<br />

durch Fakten schwer überzeugen. Ich bin mit den<br />

Veränderungen nicht einverstanden und werde<br />

von der eigenen Fantasie ins Exil getrieben. Die<br />

Kulisse ist weg, der Rahmen, ein Clown, der trotzdem weiter<br />

seine Vorstellung gibt. Die Zeit dekonstruiert sich. Im<br />

Alter verblasst man, das Aussehen geht weg. Seit einiger<br />

Zeit steht eine neuere Fotografie von mir vor mir auf dem<br />

Frühstückstisch, ein Abklatsch von dem, was einmal war,<br />

und ich vermag es nicht, mich damit zu identifizieren. Mir<br />

fällt dann Kafkas Erzählung ein: „die Verwandlung“. Darin<br />

erwacht der Ich-Erzähler eines Morgens als Käfer. Seelische<br />

Leerstellen entstehen, Löcher in der Zeit. Wie wenig<br />

man doch vom Leben versteht, während es sich ereignet.<br />

Man möchte als älterer Mensch noch wahrgenommen<br />

werden. Mir kommt die Geschichte von Henry Miller in<br />

den Sinn: „das Lächeln am Fuße der Leiter“. Oder, ein in<br />

sich ganz banales Ereignis letztlich: Ich suchte die Toilette<br />

in C&A auf. Der Toilettenmann ist Afrikaner, ich war ihm<br />

„Das Lächeln am Fuße der Leiter“<br />

Bild: Erika Krumm<br />

schon einmal dort begegnet. Als ich meinen Obolus in die<br />

dafür vorgesehene Schale warf, wandte er sich mit einem<br />

überwältigenden Strahlen in seinen Augen mir zu. Er ist<br />

älter, hat ein breites, sehr schönes Gesicht und das Lächeln<br />

ließ den ganzen Charme des afrikanischen Kontinents, den<br />

dieser ja auch besitzt, erahnen. Er fragte mich, in einem<br />

exzellenten Deutsch: „Wie geht es Ihnen?“ Dieses Lächeln,<br />

an so unerwarteter Stelle, wärmte mich für einige Tage.<br />

Lächeln ist das Leuchten der Seele. Der Welt fehlt jetzt die<br />

Haut, man sieht und spürt alles, der Schutz ist weg.<br />

Es gibt Phasen, da will die Erinnerung mich ganz für sich.<br />

Sie ist Fluch und Segen zugleich, führt ein unverfügbares<br />

Eigenleben, und ich weiß manchmal nicht, ob ich Subjekt<br />

oder Objekt bin. Ich bekomme Platzangst im eigenen Da-<br />

52 25 Jahre durchblick 2/<strong>2012</strong>

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