11.04.2024 Aufrufe

2012-02

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lyrik<br />

sein. Das autobiografische Gedächtnis arbeitet unzuverlässig,<br />

manipuliert durch Gedanken und Bilder. Das Leben<br />

eine einzige Erfindung? Das ist auch das Phänomen im Verbund<br />

mit unterschiedlichen Zeugenaussagen bei Verkehrsunfällen<br />

oder auch historischen Ereignissen. Wir erinnern<br />

Essenzen, Bedeutungen, die Dinge für uns hatten, es sind<br />

kleine emotionale Ausschnitte, Impressionen. Sie blitzen<br />

auf, treten aus dem Schatten, eine anonyme Macht. Nach<br />

welchen Kriterien entlässt das Unterbewusstsein sie? Der<br />

Code ist das große Geheimnis. Sie sind nicht chronologisch<br />

geordnet, die erinnerten Fragmente wirbeln durcheinander,<br />

alle sind zugleich gegenwärtig, an unterschiedlichen Orten<br />

und verschiedenen Zeiten. Klar scheint zu sein, dass ich,<br />

um etwas ganz bewusst erinnern zu können und es dem<br />

Gedächtnis zu entlocken, das Erlebnis sprachlich erfasst<br />

haben muss, es muss reflektiert sein, wie Richard David<br />

Precht in seinem Buch „Wer bin Ich und wenn ja, wie viele“<br />

konstatiert. Gefühle sind die Wächter der Erinnerungen.<br />

Wenn ich ihnen den Kampf ansage, einen faustischen<br />

Pakt beschwöre, verhöhnen sie mich, sie wissen, dass wir<br />

ohne sie nichts sind. Sie werfen mir Unzulänglichkeiten vor,<br />

die sich mit zunehmendemAlter breit machen, konfrontieren<br />

mich mit der eigenen Schwäche, mit den gesundheitlichen<br />

Einschnitten. Rückblickend wird der Schmerz manchmal<br />

zum Raum. Ich habe den Körper als Verbündeten verloren.<br />

Ich denke, dass diffuse Ängste auch mit früheren Traumata<br />

in ähnlichen Situationen zusammenhängen, hauptsächlich,<br />

wenn man sie nicht bewusst wahrgenommen hat.<br />

Die Erinnerung lässt die Toten nicht ruhen, weckt Ressentiments,<br />

die fesseln und die eigene Persönlichkeit begrenzen.<br />

Zur erinnerten Landkarte unserer Empfindungen<br />

gehören auch das Herumirren in fremden Gegenden, die<br />

Poetik des Unheimlichen, Räume ohne Eigenschaften,<br />

Nichtorte, wie Bunker, Flughäfen, Supermärkte, Bahnhöfe,<br />

Hotels, Gesichter ohne Heimat. Es sind Atmosphären, die<br />

einem folgen wie ein Schatten, sie können, plötzlich, überall<br />

liegen. Eines der letzten Erlebnisse, das sich in diese Kategorie<br />

einordnen ließe, waren die dramatischen Ereignisse<br />

im Verbund mit dem Apartment, welches meiner Wohnung<br />

gegenüberliegt. Die Bewohnerin hatte diese total verschimmeln<br />

lassen und mein Wohnzimmer war in Mitleidenschaft<br />

gezogen.<br />

Die Frage am Ende aller Reminiszenzen und Betrachtungen<br />

lautet immer: Was wäre gewesen, wenn…?<br />

Erika Krumm<br />

dem traum passiert<br />

und leben verweigert<br />

erst das gewissen<br />

weckt einwilligung<br />

in neuen tag<br />

(Heinrich Waegner)<br />

Er hat sich als Autor des Regionalkrimis „Tod im Lokschuppen“<br />

und von drei Kinderbüchern bereits einen Namen<br />

gemacht: Autor Micha Krämer (42) aus Kausen (Kreis<br />

Altenkirchen). Nun hat er sich an ein ganz anderes Genre<br />

gewagt. In seinem Roman „Keltenring“ (Verlag amadeusmedien)<br />

erzählt er die Geschichte des jungen Schatzsuchers<br />

Tom Berger, der 2007 bei Experimenten mit Zeitreisen<br />

im Jonastal in Thüringen aus Versehen zurück ins Jahr<br />

1944 katapultiert wird.<br />

Beeindruckend real beschreibt Krämer, wie der junge<br />

Mann am eigenen Leib die Schrecken der Naziherrschaft<br />

erlebt. Verkleidet als SS-Unterscharführer ist er auf der<br />

Flucht, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wieder<br />

in die Gegenwart zurückzugelangen. Denn auch die<br />

Nazis experimentieren mit Zeitreisen. Die Himmelsscheibe<br />

von Nebra spielt eine wichtige Rolle in diesem geheimen<br />

Projekt, das dem Roman seinen Namen gab.<br />

Dass die Handlung im thüringischen Jonastal angesiedelt<br />

ist, beruht nicht auf Zufall: Womit sich die Nazis hier in<br />

einer ausgedehnten unterirdischen Anlage bis zum Kriegsende<br />

beschäftigten, ist bis heute nicht wirklich geklärt. Von<br />

Experimenten mit Atomwaffen ist die Rede, vom Versteck<br />

für das Bernsteinzimmer und vielem mehr. Da bleibt viel<br />

Raum für Fantasie. Noch immer sind heutzutage hier Menschen<br />

unterwegs, die das Geheimnis des Jonastals lüften<br />

wollen.<br />

Micha Krämer hat reale Begebenheiten und Personen<br />

der Zeitgeschichte in die Handlung eingebaut und Fantasie<br />

und Wirklichkeit geschickt miteinander verwoben. Dabei<br />

ist es ihm gelungen, ein düsteres Thema mit Rassenwahn<br />

und Judenverfolgung seinen Lesern nahezubringen. Beklemmend<br />

wirken die Milieuschilderungen in einem menschenverachtenden<br />

System; beeindruckt<br />

ist man auch<br />

von detailgetreu<br />

wirkenden Szenen<br />

wie z.B. der Flug<br />

mit Reichsführer<br />

SS Himmler in<br />

einer Ju 52. Ein<br />

facettenreiches,<br />

wirklich spannendes<br />

Buch.<br />

Wolfgang Stössel<br />

Micha Krämer:<br />

„Keltenring“, Taschenbuch,<br />

328 S.,<br />

9,95 €, erhältlich<br />

im Buchhandel.<br />

KELTENRING<br />

2/<strong>2012</strong> 25 Jahre durchblick 53

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!