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phantast14

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Nacht in Neo Tokyo<br />

von Jeremy Iskandar (2005)<br />

I.<br />

Das Wasser in der Bucht von<br />

Neo Tokyo glich einem schwarzen<br />

Spiegel, auf dessen düsterer<br />

Oberfläche die verwaschenen<br />

Lichter des Sprawl zu zerfließen<br />

schienen. Vom Meer her wehte<br />

eine leichte Brise durch die Bucht<br />

und ließ die dünnen Signalmasten<br />

des Frachters mit einem blechernen<br />

Scheppern erbeben.<br />

Cross stand an der Reling, sein<br />

Mantel flatterte leicht im Wind.<br />

Die Nachtluft wirkte erfrischend<br />

und hätte ihn fast vergessen lassen,<br />

warum er hier war. Als sich<br />

der alte Frachter den gigantischen,<br />

automatisierten Hafenanlagen<br />

des Sprawl näherte und<br />

Cross das Licht des Kerns förmlich<br />

dabei beobachten konnte,<br />

wie es in wirren Bahnen in die<br />

Bucht hinabfloss, überkam ihn<br />

ein eigenartiges Gefühl. Es war<br />

dieser Hauch, der einem durch<br />

den ganzen Körper fährt, sanft,<br />

aber dennoch kühl, erregend,<br />

aber beängstigend. Er war schon<br />

lange nicht mehr hier gewesen,<br />

verdammt lange. Und hätte er<br />

vor zwei Nächten nicht diesen<br />

eigenartigen Traum von seiner<br />

kleinen Schwester gehabt, er wäre<br />

sicherlich nicht wieder hierher<br />

zurückgekehrt.<br />

Neo Tokyo ist ein düsteres Pflaster,<br />

ein Moloch, getaucht in<br />

Zwielicht, hatte man ihm damals<br />

gesagt, und Cross wusste, dass<br />

es die Wahrheit war. Im Schein<br />

endloser Kaskaden aus animierten,<br />

grell leuchtenden Neonreklamen<br />

und in den Schatten glitzernder<br />

Stahl- und Glasbauten<br />

stand der Mensch zerrissen zwischen<br />

Tradition und Moderne,<br />

wogte er in der Masse dahin und<br />

war doch einsam und hilflos im<br />

Strom der Veränderung gefangen.<br />

Neo Tokyo war ihm fremd und<br />

vertraut zugleich. Wie so oft seit<br />

gestern Nacht fragte er sich nun,<br />

ob es in einem urbanen Labyrinth<br />

wie diesem überhaupt<br />

möglich war, einen einzelnen<br />

Menschen ausfindig zu machen.<br />

Aber er hatte schließlich keine<br />

andere Wahl. Die Überfahrt auf<br />

dem chinesischen Frachter hatte<br />

seinen Stick fast gänzlich geleert,<br />

und Neo Tokyo war berüchtigt<br />

für seine enormen Preise. Ein<br />

Zurück gab es für ihn nun also<br />

nicht mehr, und abgesehen davon<br />

war er auch einfach nicht<br />

der Typ, der angefangene Sachen<br />

nicht zu Ende brachte.<br />

Trotzdem, der Traum hatte ihn<br />

stutzig gemacht. Er hatte noch<br />

nie von seiner Schwester ge-<br />

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