Jubiläen 2007 - Universitätsarchiv Leipzig - Universität Leipzig
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Sünde“ der echten materialistischen, experimentellen Psychologie gegenüber<br />
galt. Die ausführliche und kollektive Interpretationsarbeit der mannigfachen Facetten<br />
seiner Völkerpsychologie hat gerade erst begonnen.<br />
Die dritte Lücke in der Sekundärliteratur betrifft die genaue Beziehung zwischen<br />
Wundts philosophischem Projekt und seiner Psychologie. Obwohl die Zeitgenossen<br />
Wundts viele Arbeiten seinem philosophischen System gewidmet haben,<br />
gibt es keine genügend tiefe Analyse von dessen Zusammenhang mit der Entwicklung<br />
seines Projekts einer wissenschaftlichen Psychologie. Außerdem gibt<br />
es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur ein einziges der Philosophie<br />
Wundts gewidmetes Buch (Arnold, 1980). Andererseits stellen die Studien, die<br />
die theoretischen Grundlagen seiner Psychologie analysieren, keine systematische<br />
Verknüpfung mit seinem philosophischen System dar.<br />
Die zeitgenössischen Wundt-Forscher haben wohl nicht bemerkt, dass nicht die<br />
Psychologie, sondern eben die Philosophie die zentrale Rolle in seinem Leben gespielt<br />
hat. Wundt war vor allem ein Philosoph, dessen letztes Ziel es war, ein auf<br />
die empirischen Ergebnisse der Einzelwissenschaften gegründetes allgemeines<br />
metaphysisches System zu formulieren. Mit einem Wort: Eine Weltanschauung<br />
zu liefern (Wundt, 1914). In diesem Sinne ist seine Psychologie Teil eines umfangreicheren<br />
Projektes und kann nur im Rahmen dessen als Ganzes verstanden<br />
werden. Wer das nicht in Betrachtung zieht, wird nur die Hälfte der Geschichte<br />
begreifen. Daher muss die enge Beziehung zwischen Wundts Philosophie und<br />
seiner Psychologie in Zukunft stärker hervorgehoben werden.<br />
Wie sieht es nun mit Wundts Aktualität aus? Wenn man die heutige Situation der<br />
Psychologie betrachtet, fällt ihre enorme theoretische Dispersion und ihre problematische<br />
philosophische Begründung auf. Viele Psychologen, stolz auf die institutionelle<br />
und intellektuelle Autonomie ihrer Disziplin, halten die Philosophie<br />
für Vergangenheit und jede philosophische Diskussion als Zeitverschwendung.<br />
Folglich bleiben die empirischen Forschungsdaten in vielen Fällen ohne eine<br />
genügende theoretische Integration oder es werden naive, unreflektierte philosophische<br />
Ideen vorgetragen, die schon vor 200 Jahren widergelegt wurden.<br />
Wundts Denken ist daher insofern aktuell, als er gegen alle diese Probleme gekämpft<br />
hat. In seiner Schrift „Die Psychologie im Kampf ums Dasein“ (Wundt,<br />
1913) warnte er vor den negativen Wirkungen einer Trennung zwischen Philosophie<br />
und Psychologie. Nur mit einer soliden philosophischen Begründung<br />
ihrer Prinzipien und Begriffe sei es der Psychologie möglich, Widersprüche und<br />
theoretische Naivität zu vermeiden.<br />
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