Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Lotte ließ einen kleinen Rauchfangkehrer aus Schokolade fallen, daß sein Kopf fortrollte, schlug die<br />
Hände vor das Gesicht, lehnte sich an die Schulter der Mutter und begann bitterlich zu schluchzen.<br />
»Mutter, mir bricht das Herz! Du wirst sehen, ich werde es nicht überleben, daß Leo in die Fremde fort<br />
muß! Mutter, laßt mich doch mit ihm ziehen!«<br />
Frau Spineder, der selbst das Wasser in den Augen stand, streichelte zärtlich das weiche, wie Gold<br />
leuchtende Haar der Tochter.<br />
»Lotte, es geht nicht! Bedenk' doch, Papa ist sechzig und er hat, seit uns der unselige Krieg den Sohn<br />
genommen, niemanden als dich. Du kannst es ihm nicht zumuten, daß er dich in die ungewisse Zukunft<br />
ziehen läßt, so gern er ja auch den Leo hat. Schau nur, Leo wird nach Paris ziehen; bei der Entwertung<br />
der Krone könnten wir euch unmöglich mit Francs unterstützen und ihr würdet vielleicht ins Elend<br />
kommen, <strong>ohne</strong> daß Papa helfen kann. Leo wird sich allein schon durchschlagen und ihr seid ja noch<br />
beide so jung, daß ihr auf andere, bessere Zeiten warten könnt. Still jetzt, der Vater kommt! Und es<br />
klingelt, der Leo wird auch schon da sein.«<br />
Herr Spineder, der jetzt eintrat, um die Kerzen anzuzünden, war der Typus des alten österreichischen<br />
Hofrates in seiner besten Art. Musik liebend und ausübend, voll innerlicher Kultur, gepflegt von außen<br />
und innen, ein Schönheitssucher, Lebensfreund und Lebensbejaher, rechtlich, gewissenhaft, tolerant und<br />
dabei doch ein wenig beschränkt, bedächtig und zögernd. Er trug auch jetzt noch den veralteten<br />
Kaiserbart, weil er es unter seiner Würde hielt, dem Umschwung der Verhältnisse an seiner Person<br />
Konzessionen zu machen, er war Demokrat durch und durch, ein treuer <strong>Die</strong>ner der Republik, aber das<br />
schöne Kaiserbild von Angeli hing noch immer über seinem Schreibtisch. Wie er jetzt eintrat, war der<br />
alte Herr mit den schlohweißen Haaren und den milden graublauen Augen der echte Altösterreicher, den<br />
man bald nur mehr aus Büchern kennen wird.<br />
»Leo ist draußen und kratzt sich den Schnee von den Sohlen ab«, sagte Hofrat Spineder, während er die<br />
Kerzen bedächtig anzündete. »Geht hinaus zu ihm, ich werde die Bescherung machen und klingeln,<br />
wenn es so weit ist.«<br />
Frau Spineder sah noch rasch in die Küche nach dem Karpfen, der Sachertorte und den Krapfen; Lotte<br />
hing aber schon am Halse Leos und schluchzte wortlos an seiner Brust.<br />
Leo Strakosch, schlank, dunkelhaarig, glattrasiert, mit lebhaften braunen Augen, aus denen Klugheit und<br />
Humor blitzten, war um zehn Jahre älter als Lotte. Im letzten Kriegsjahre war er als Einjähriger<br />
eingerückt und im Felde hatte er den gleichaltrigen Rudolf Spineder, den Sohn des Hofrates, kennen und<br />
als Freund lieben und schätzen gelernt. In der letzten Piaveschlacht hatte Rudolf einen Kopfschuß<br />
bekommen und in den Armen des Freundes seine junge Seele ausgehaucht, nachdem er ihn gebeten, die<br />
Eltern und das Schwesterchen zu grüßen. So war Leo in das Haus des Hofrates gekommen, der arme<br />
Sohn eines kleinen Agenten fühlte sich in dem vornehm-bürgerlichen Milieu unendlich wohl, und als<br />
Lotte aus einem Kinde ein blühendes, schönes Mädchen wurde, stand es in ihm fest: <strong>Die</strong>se oder keine!