Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
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8. Kapitel<br />
<strong>Die</strong> lieben süßen Mädeln<br />
Unter den lieben Wiener Mädeln herrschte Unzufriedenheit. Instinktiv, im Unterbewußtsein, empfanden<br />
sie, daß die hohe und große Politik der Regierung zum nicht unbedeutenden Teil auf ihre Kosten<br />
gemacht worden war. Seit einem halben Jahrhundert hatte es sich eingebürgert, daß das hübsche Wiener<br />
Mädel aus den kleinen Bürgerkreisen einen Schatz besaß, der Jude war. Mochte der Vater begeisterter<br />
Christlichsozialer, der Bruder ebenso begeisterter Deutschnationaler sein – die Poldi oder Fini, die Mitzi<br />
oder Grete »ging« mit einem <strong>Juden</strong>, der Kommis oder Bankbeamter, Geschäftsmann oder Student war.<br />
Von ihren Freundinnen, die keinen <strong>Juden</strong> hatten, wurde sie deshalb oft gestichelt und gehöhnt, immer<br />
aber auch beneidet. Denn einen <strong>Juden</strong> zum Geliebten haben, das bedeutete ins <strong>The</strong>ater und feine<br />
Kaffeehäuser geführt, gut behandelt, freigebig bedacht werden.<br />
Einen <strong>Juden</strong> aber gar zu heiraten, das galt als Haupttreffer, als Garantie für Wohlstand, Pelzmantel und<br />
schöne Kleider.<br />
Fragte man die Poldi oder Tini, woher diese Vorliebe für einen jüdischen Schatz, so pflegte man immer<br />
dieselbe Antwort zu bekommen:<br />
»Ein Jud ist immer nobel und wenn er eine Christin heiratet, so trägt er sie auf den Händen. Und dann<br />
besaufen sie sich nicht. Früher bin ich einmal mit einem Christen gegangen und da hab' ich am Sonntag<br />
immer Todesängste ausgestanden, daß er wieder einen Rausch kriegen und Skandal machen wird. Jetzt,<br />
wo ich einen jüdischen Freund habe, gehen wir immer in noble Lokale, er trinkt fast nichts, er ist g'scheit,<br />
weiß so viele Sachen zu erzählen und wird niemals grob.«<br />
Wenn die süßen Mädeln aber ganz unter sich und sehr miteinander befreundet waren, wenn sie ihre<br />
erotischen Erlebnisse und Erfahrungen austauschten, dann erzählten sie von der Sinnlichkeit der <strong>Juden</strong><br />
und der Vielfältigkeit ihrer erotischen Neigungen im Gegensatz zu ihren gut christlichen, sehr braven,<br />
aber weitaus weniger amüsanten arischen Freunden...<br />
Möglich, wahrscheinlich sogar, daß der Antisemitismus bei der männlichen Bevölkerung Wiens im<br />
Laufe der Jahrzehnte so stark, so fanatisch geworden war, weil es der Jüngling mit dem Hakenkreuz sah<br />
und nicht verwinden konnte, wie ihm die jüdische Konkurrenz die hübschen Mädeln wegschnappte!<br />
Und nun war das alles anders geworden, gab es diese jüdische Konkurrenz nicht mehr, war das Wiener<br />
Mädel ganz und gar auf seine Rassegenossen angewiesen. Was sich aber nicht verhindern und verbieten<br />
ließ, war der Vergleich und die Erinnerung.