Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
12. Kapitel<br />
Der Bund wahrhaftiger Christen<br />
Seltsame, mysteriöse Dinge ereigneten sich. Eines Morgens standen am Schottentor vor einer<br />
Litfaßsäule, desgleichen vor der Oper, am Stubenring und an anderen Plätzen Hunderte von Männern<br />
und Frauen vor kleinen, mit einem Reißnagel befestigten Plakaten im Oktavformat, die folgende<br />
Inschriften enthielten:<br />
»Wiener, Österreicher! Rafft Euch auf, bevor Ihr alle zugrunde gegangen seid! Mit den <strong>Juden</strong> habt Ihr<br />
den Wohlstand, die Hoffnung, die Zukunftsmöglichkeit ausgewiesen! Fluch den Volksverführern, die<br />
Euch irregeleitet haben!<br />
Der Bund wahrhaftiger Christen.«<br />
<strong>Die</strong> Menschen lasen einander die frechen Worte vor, viele schimpften und behaupteten, daß Freimaurer<br />
das getan haben mußten, andere entfernten sich wortlos, wieder andere hatten den Mut, zustimmende<br />
Äußerungen zu tun und die Anderssprechenden trotzig anzusehen.<br />
Nach einigen Tagen erschienen an verschiedenen Plätzen neue Plakate mit den Worten:<br />
»Wien verdorft! Wiener, seht Ihr es denn nicht? Noch ein paar Jahre und aus der alten ehemaligen<br />
Kaiserstadt wird ein schäbiges, vergessenes Nest geworden sein!«<br />
Das ging den Leuten, die nun den Inhalt des Plakates auch aus der »Arbeiter-Zeitung« vernahmen, auf<br />
die Nerven, allenthalben wurde man unruhig. War nicht etwas Wahres an dieser neuen Behauptung des<br />
mysteriösen Bundes wahrhaftiger Christen? Leidenschaftliche Diskussionen wurden darüber in<br />
Versammlungen, im Wirtshaus, in der Straßenbahn geführt, aber das Wort von der Verdorfung Wiens<br />
blieb irgendwie in der Luft hängen, wurde geflügelt, man bekam es überall zu hören, ja sogar die<br />
christliche »Weltpresse« schrieb am Schluß eines Leitartikels ganz unwillkürlich: »Wir müssen alles tun,<br />
um der Verdorfung zu entgehen!«<br />
<strong>Die</strong> Polizei wurde von der erbosten Regierung aufgefordert, den Übeltäter aufzuspüren, der die Plakate<br />
anschlug. Vergebliche Mühe! Alle paar Tage kamen neue zum Vorschein, immer an anderen Plätzen, an<br />
Haustoren, Kirchenportalen, ja einmal hing je eines an den Toren des Kanzlerpalais, des<br />
Polizeipräsidiums und des Parlamentes. Und immer enthielt das kleine Plakat in wenigen Worten eine<br />
wirksame Polemik gegen die Regierung, eine suggestive Aufhetzung der Bevölkerung. <strong>Die</strong> »Arbeiter-<br />
Zeitung« war jedesmal in der Lage, schon in ihrer Morgenausgabe den Inhalt des Pamphlets, das heute<br />
angeschlagen werden würde, zu veröffentlichen, weil ihr ein Exemplar schon am Tage vorher mit der