Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
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eben auf ein Viertel vor zehn wies. Blitzschnell war auch sie auf ein Viertel vor neun gestellt und dann<br />
machte sich der Franzose an die unerquickliche Arbeit, Herrn Krötzl, das Wiener Postament der<br />
christlichsozialen Partei, zu wecken. Es dauerte geraume Zeit, bevor Krötzl endlich die verquollenen<br />
Äuglein aufschlug und die Situation begriff.<br />
»Jessas, der Herr Dufresne, is' schon so spät?« Und dann, mit einem Blick auf die Taschenuhr,<br />
brummend: »Noch net amal Neun is'! Da hätt' i noch a ganze Stund' schlafen können!«<br />
»Jawohl,« sagte Leo lachend, »wenn ich nicht eine bessere Unterhaltung für Sie und mich wüßte. Stellen<br />
Sie sich nur vor, wie ich gestern nacht nach Hause komme, finde ich ein Postpaket aus Paris vor mit den<br />
besten Weinen, die Frankreich besitzt. Na, und weil ich mich wirklich über Ihren Sieg von ganzem<br />
Herzen freue, denke ich, daß wir, bevor wir ins Parlament fahren, noch eine kleine Siegesfeier unter uns<br />
veranstalten können. Sie sind ja Kenner, Herr Nationalrat, und werden sehr bald zugeben, einen solchen<br />
Wein, wie ich ihn Ihnen kredenze, im Leben noch nicht genossen zu haben.«<br />
Wie elektrisiert sprang Herr Krötzl aus dem Bett, zog sich notdürftig an und streichelte dann bewundernd<br />
die eine der sechs Weinflaschen nach der anderen, die mit allen Zeichen des ehrwürdigen Alters vor ihm<br />
standen. Weißbrot war vorhanden, die Straßburger Pastete entlockte Herrn Krötzl ein rülpsendes<br />
Grunzen, das sich in einen Jubelhymnus verwandelte, als das erste Glas des goldgelben Burgunders<br />
durch seine Kehle rann.<br />
»A so a Weinerl! Wann man den immer hätt', dann tät' man an anderer Mensch wer'n! Ka Wunder, wenn<br />
die Franzosen so an Schick zum Leben haben, wo's so an Wein bei ihnen gibt!«<br />
Das zweite Glas wurde auf den Sieg des Herrn Krötzl geleert, das dritte auf »Nieder mit den <strong>Juden</strong>«, das<br />
vierte auf »Hoch die schöne, judenreine <strong>Stadt</strong> Wien«. Dann wurde einer Flasche des blutroten Bordeaux<br />
der Hals gebrochen, und als sie zur Neige ging und Leo die dritte Flasche entkorkte, trug ihm Krötzl die<br />
Bruderschaft an. Bei der vierten Flasche machte er den Franzosen mit den Geheimnissen seines<br />
Sexuallebens bekannt und erklärte, daß Frauenzimmer über vierzehn eigentlich alte Weiber seien. <strong>Die</strong><br />
sechste Flasche wurde von Leo, <strong>ohne</strong> daß Krötzl, dem sich die Welt vor den Augen zu drehen begann, es<br />
merkte, zur Hälfte mit Kognak gemischt, und nun hieß es – Schluß machen, weil der Herr Nationalrat<br />
sonst überhaupt nicht mehr die Treppen hinuntergebracht hätte werden können und die richtiggehende<br />
Uhr auf zwölf ging, also die Gefahr bestand, daß jeden Augenblick die Parteigenossen Krötzls nach ihm<br />
fanden würden. Daß Leo bei solcher Zecherei selbst vollständig nüchtern geblieben war, verdankte er<br />
lediglich dem Umstand, daß er den Inhalt seines Glases regelmäßig unter den Tisch auf den schönen<br />
Perserteppich gegossen hatte.<br />
Mit ungeheurer Anstrengung beendigte Leo die Toilettierung des Nationalrates, dann trug er ihn fast die<br />
vielen Treppen hinunter und beförderte ihn mit Hilfe des Chauffeurs in das Innere des geschlossenen<br />
Automobils. Grinsend hatte der Chauffeur dem Franzosen, den er oft zu führen pflegte, zugenickt. Leo<br />
stieg ein, setzte sich neben Krötzl, der schon als halbe Weinleiche in der Ecke lag, und in mäßigem<br />
Tempo ging es vorwärts.