Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer
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»In diesem Augenblick der allgemeinen Verwirrung Neuwahlen ausschreiben, hieße das Geschick des<br />
Landes den radikalen Elementen ausliefern und den <strong>Juden</strong> wieder Tor und Tür öffnen! Das stolzeste und<br />
größte Werk, das die österreichische Legislatur jemals geschaffen, würde zusammenbrechen, weil wir<br />
nicht genug Geduld und Aufopferungsfähigkeit haben, um auszuhalten und die gegenwärtigen<br />
Schwierigkeiten zu überwinden. Ich weiß, daß das internationale <strong>Juden</strong>tum am Werke ist und sicher<br />
arbeiten Agitatoren, vom jüdischen Gelde bestochen, daran –«<br />
<strong>Die</strong> weiteren Worte des Kanzlers gingen in dem ungeheuren Tumult verloren, der nun folgte. <strong>Die</strong><br />
Sozialdemokraten klopften mit den Pultdeckeln, die Galerie tobte und schrie, sogar aus den Reihen der<br />
Gesinnungsgenossen kamen Zurufe, wie: »Haben Sie Beweise für Ihre Behauptungen?«<br />
Um sechs Uhr abends wurde noch immer über den Dringlichkeitsantrag der Sozialdemokraten<br />
gesprochen, die ersichtlicherweise alles taten, um die Sitzung in die Länge zu ziehen. Jeder Redner<br />
sprach stundenlang; hatte der eine geendet, so meldete sich ein anderer zum Wort, die meisten<br />
Abgeordneten hörten längst nicht mehr zu, sondern stärkten sich am Büfett, auch die Ministerbank war<br />
leer geworden, nur Schwertfeger saß mit verschränkten Armen starr und düster auf seinem Sitz.<br />
Plötzlich kam neues Leben in das Haus. Das Gerücht verbreitete sich, daß Arbeitermassen in Anzug<br />
seien, gleich darauf hörte man aus weiter Ferne die Klänge des Arbeiterliedes, das Jauchzen und Toben<br />
erregter Menschenmassen, bis plötzlich ein einziger Ruf von ungeheurer Stärke durch die geschlossenen<br />
Fenster drang:<br />
Nieder mit der Regierung! Fort mit der Nationalversammlung! Wir wollen Neuwahlen!<br />
Und schon umzingelten dichte Menschenmassen mit ihren Fahnen und Standarten das Abgeordnetenhaus<br />
und immer neue Züge kamen an, die gesamte Arbeiterschaft Groß-Wiens, die Angestellten und Beamten<br />
waren von den Fabriken und Werkstätten, Bureaus und Ämtern in geschlossenen Gruppen anmarschiert.<br />
Schon donnerten mächtige Schläge gegen die Tore des Hauses, die rasch geschlossen worden waren,<br />
schon prasselte ein Steinhagel gegen die Fenster, schon hatte sich eine Deputation der Arbeiter<br />
gewaltsam Einlaß verschafft. Ihr Führer, ein Eisenarbeiter namens Stürmer, ein gewaltiger Kerl mit<br />
klugen Augen und riesigem Schädel, stellte sich mitten unter die Abgeordneten, die, von Panik ergriffen,<br />
wie die Schafe beim Gewitter einen geschlossenen Haufen bildeten, und erklärte kurz und bündig:<br />
»Das Militär hält zu uns, die Jungmannschaft unter den Polizisten ebenfalls! Entweder die Regierung löst<br />
innerhalb zehn Minuten das Haus auf und erklärt, daß sofort Neuwahlen ausgeschrieben werden, oder die<br />
Massen gehen mit Gewalt vor. <strong>Die</strong> Erbitterung der Leute kennt keine Grenzen, hinter den Arbeitern steht<br />
diesmal das Bürgertum, es handelt sich um keine politische Angelegenheit, sondern um Taten der<br />
Verzweiflung. Am wildesten sind die Frauen, hören sie nur, wie sie schreien, man möge das Parlament<br />
anzünden! Gibt die Regierung nicht nach, so können wir für nichts garantieren!«