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Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer

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schleppend, wie die eines Mannes, der einem schicksalsschweren Augenblick entgegengeht. Vor dem<br />

Hause des Hofrates Spineder blieb er tiefatmend stehen und zog sich den grauen Kalabreserhut in die<br />

Stirne, daß man nur mehr seinen Knebelbart und das Kinn sah. Unschlüssig ging er auf und ab, mitunter<br />

nervös auf die Armbanduhr sehend, die auf halb zwölf wies. Gerade als er wieder vor dem grünen Tor<br />

stand, ging dieses auf und ein <strong>Die</strong>nstmädchen verließ das Haus. Und eben in diesem Augenblick, als das<br />

Tor offen stand, sah Herr Dufresne, wie von der links im Hofe gelegenen Wohnungstür ein junges,<br />

weißgekleidetes Mädchen mit goldblonden Haaren, die kein Hut verdeckte, in der Hand ein Buch, den<br />

Hof nach rückwärts durchschritt und den Garten aufwärts ging.<br />

»Hurra!« schrie der Mann mit dem Knebelbart in sich hinein und sein Kriegsplan war fertig. Rechts vom<br />

Spinederschen Grundstück lag, von ihm durch einen Holzzaun getrennt, ein langer, leerer Bauplatz, seit<br />

dem Kriege provisorisch in einen riesigen Gemüsegarten verwandelt. Der Länge nach zog sich dieser<br />

Gemüsegarten bis hoch hinauf zum Lusthäuschen auf der höchsten Stelle des Spinedergartens. Auf der<br />

anderen Längsseite war das Grundstück ebenfalls durch einen Holzzaun von einer Nebengasse der<br />

Kobenzlgasse getrennt, aber dieser Zaun war verwahrlost und wies mehrfach Unterbrechungen auf.<br />

Durch eines der Löcher kroch nun der Franzose, eilte mit langen Sätzen den Gemüsegarten aufwärts,<br />

wobei er links von sich das blonde Mädchen gehen sah und es bald hinter sich ließ. Nun war Herr<br />

Dufresne ganz oben, mit einem Ruck schwang er sich über den Zaun in den Garten des Hofrates<br />

Spineder hinüber und versteckte sich hinter einem mächtigen Lindenbaum, der mitten im Weingarten<br />

stand. Einige Minuten später war das Mädchen beim Baum angelangt, aber es konnte den Mann hinter<br />

dem Baum nicht sehen. Bis plötzlich Unerwartetes geschah. Herr Dufresne rief halblaut: »Lotte!« Und<br />

als Lotte Spineder erschreckt und verwirrt stehen blieb und sich umsah, rief er wieder: »Lotte! Ich bin es,<br />

um Himmels willen erschrick nicht!«<br />

Im nächsten Augenblick hielt der Herr mit dem Knebelbart Lotte, die schneeweiß geworden war und zu<br />

schwanken begonnen hatte, in seinem Arm. Und immer wieder preßte er seinen Mund auf ihre kalten<br />

Lippen, bis sich ihre Wangen färbten und sie ihn, am ganzen Körper bebend, fest umklammerte, als<br />

wollte man ihn ihr entreißen.<br />

Und nun saßen sie im Lusthäuschen, Leo Strakosch hielt Lotte auf seinem Schoß und erzählte in<br />

fliegenden Worten:<br />

»Ja, Lottchen, ich bin es, und dir zuliebe habe ich mir diesen entsetzlichen Napoleonbart plus<br />

Schnurrbart wachsen lassen. Ich habe es einfach vor Sehnsucht nach dir nicht mehr ausgehalten, und als<br />

mir dein Vater schrieb, daß er ernstlich um deine Gesundheit besorgt sei und es für richtiger halte, wenn<br />

wir den Briefwechsel, der in dir alle Wunden immer wieder aufreiße, einstellen würden, war mein Plan<br />

gefaßt. Ich vertraute mich einem lieben, guten Kameraden, Henry Dufresne, der für mich ins Feuer gehen<br />

würde, an, ließ mir den Knebelbart, wie er ihn hat, stehen und bekam von ihm sämtliche Papiere, als da<br />

sind: Taufschein, Heimatschein, Militärzeugnis und den ordnungsgemäß von der österreichischen<br />

Gesandtschaft in Paris vidierten Paß. Wir sahen durch den Bart einander so ziemlich ähnlich, so daß er es<br />

riskieren konnte, sich seinen Paß mit meiner Photographie zu besorgen. Und meine Unterschrift hat er<br />

nachgemacht und nicht ich seine. Der gute Junge hat natürlich allen Freunden und Bekannten erzählt,<br />

daß er nach Wien fährt, in Wirklichkeit ist er auf das Gut seines Onkels in Südfrankreich gegangen, wo

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