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Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden - The new Sturmer

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der Volkshalle des Rathauses unter der Devise: »Wir können nicht weiter!«<br />

Zehntausende von Menschen waren der Einladung gefolgt und trotz der außerordentlichen Kälte standen<br />

vor dem Rathause ungeheure Menschenmassen, die in der Volkshalle nicht mehr Platz gefunden hatten.<br />

<strong>Die</strong> Versammlung bot ein merkwürdiges Bild. Leo Strakosch, der sich ebenfalls eingefunden hatte,<br />

konstatierte, noch niemals so viele vollbärtige Männer gesehen und noch nie so viele Heilrufe gehört zu<br />

haben. Eine andere Staffage und man hätte an eine Tiroler Bauernversammlung zur Zeit des Andreas<br />

Hofer denken können. Auch Weiblichkeit war massenhaft vertreten, aber wahrhaftig nicht die lieblichste,<br />

die Wien aufzuweisen hat. Unter allgemeinem Heilgebrüll eröffnete der Apotheker Doktor Njedestjenski<br />

die Versammlung mit der Feststellung, daß es so nicht weitergehen könne. Er vermied es sorgfältig, die<br />

Notlage und Teuerung mit der <strong>Juden</strong>ausweisung in Zusammenhang zu bringen, sondern gab sich höchst<br />

deutschnational und behauptete, nur die Tatsache, daß Österreich sich nicht an Deutschland anschließen<br />

könne, sei schuld an dem jammervollen Niedergang Wiens. Worauf ein Arbeiter unter schallender<br />

Heiterkeit dazwischen rief:<br />

»Wir können uns ja gar nicht mehr anschließen, oder glauben Sie, daß die Deutschen auch solche<br />

Trotteln wie wir sind und ihre <strong>Juden</strong> hinausschmeißen werden?«<br />

Das brachte den Apotheker aus dem Konzept, er stammelte noch etwas von deutscher Einheit und<br />

deutschem Volksbewußtsein, schrie »Heil«, und gab den Rednern das Wort. Worauf fast nur mehr über<br />

die <strong>Juden</strong> gesprochen wurde. Und zwar so, daß ein Unkundiger hätte glauben müssen, Wien sei die<br />

judenfreundlichste <strong>Stadt</strong> der Welt. Als ein Weinhändler antisemitische Töne anschlug, wurde er direkt<br />

niedergeschrien und ein Zwischenruf. »Hätten wir lieber von den <strong>Juden</strong> gelernt, als sie hinauszujagen!«<br />

fand großen Beifall. Leo konnte sich nicht länger beherrschen. Mt bedenklichem Herzklopfen meldete er<br />

sich bei dem Vorsitzenden zum Wort und bestieg die Rednertribüne, während er dachte: Nun, Frechheit,<br />

steh mir bei! Er tat, als würde er die deutsche Sprache nur unvollkommen beherrschen, betonte immer<br />

wieder, daß er als Franzose eigentlich nicht befugt sei, sich in die Angelegenheit Österreichs zu mischen,<br />

aber von Wohlwollen für diese unvergleichlich schöne und liebreizende <strong>Stadt</strong>, der schönsten nach oder<br />

mit Paris, erfüllt, doch nicht umhin könne, seiner Meinung Ausdruck zu geben. Worauf die anwesenden<br />

Vollbärte geschmeichelt und die Frauen, von dem schlanken, hübschen Mann trotz des Knebelbartes<br />

entzückt »Heil!« schrien. Und dann fuhr Leo mit französischem Akzent fort:<br />

»Auch wir in Paris haben sehr viele <strong>Juden</strong>, gute und schlechte, wertvolle und schädliche. Jedenfalls sind<br />

viele darunter, die alle Hochachtung verdienen und dem Land von großem Nutzen sind. Niemandem aber<br />

würde es bei uns einfallen, die <strong>Juden</strong> ausweisen zu wollen, sondern jeder versucht, ihre guten<br />

Eigenschaften auszunützen. Ich bin hier nicht zu Hause und kenne daher die Wiener <strong>Juden</strong> nicht so<br />

genau, kann aber sagen, daß ich in Paris mit sehr vielen aus Wien Ausgewiesenen verkehrt habe, die<br />

einen vortrefflichen Eindruck gemacht haben und sicher sehr bald gute Franzosen sein werden. Es ist<br />

möglich, daß zwischen den österreichischen Christen und den <strong>Juden</strong> ein größerer Unterschied ist, als<br />

zwischen den leichtbeweglichen und temperamentvollen Franzosen und den <strong>Juden</strong>. Aber gerade deshalb<br />

müßte doch eine gute Ergänzung möglich sein. Ich höre, daß man den <strong>Juden</strong> hierzulande den Vorwurf

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