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SAHIKA TEKAND — SPIELREGELN SPIELREGELN TExT: SAHIKA TEKAND FoToS: UgUR TaSkin Ich bin eine Spielemacherin: Obwohl ich eigentlich die Verwandlung des Lebens in ein reines Spiel ablehne, versuche ich als Künstlerin eine Form zu entwickeln, die sich der Verwechslung des Spiels mit dem Leben widersetzt. Mein Theater konzentriert sich auf das Spiel. Zurzeit behandeln wir alle unser Leben als ein Spiel, ein Spiel, in das wir nicht eingreifen können, das uns keine Wahl zu lassen scheint. Leben und Spiel werden von den aktuellen Strömungen in der Kunst negiert. Wir wissen nicht, was real und was virtuell ist. Leben und Spiel verschwimmen zunehmend. Dagegen steht für mich das Theater. Das Theater, das von der Realität des augenblicklichen Momentes erzählt. Theater ist nicht Leben, sondern strikt etwas anderes. Als ich in den frühen achtziger Jahren Schauspiel studierte, waren die Veränderungen, die in der Welt geschahen, so schnell und intensiv, dass sie beinah überall greifbar wurden. In diesen Jahren interessierte mich besonders die Frage, wie Performance-Kunst aussehen könnte. Als Künstlerin fragte ich mich, wie man zeitgenössisches Theater machen könne, das die Realität des augenblicklichen Momentes in sich aufnimmt, ohne seine eigene künstliche Form zu verschleiern. Ich wollte das Theater zu einer aktuellen, zeitgenössischen Kunstform machen. So habe ich eine Form entwickelt, die ich „Darstellende Aufführungs- und Schauspielmethode“ nenne. Meine Methode entstand als Auseinandersetzung und Kritik an den formalen Theatermitteln und an einer Tendenz in den Künsten, das Leben zunehmend zu ästhetisieren. Gerade das Theater, das mit einem kritischen Anspruch formuliert wurde, gab eine naturalistische und sehr idealistische Abbildung der Welt wieder. Ich aber war auf der Suche nach einem Theater, das einem zeitgenössischen Publikum und seiner Sichtweise entsprach und das dennoch der Realität des Aktuellen gerecht wurde. So gründete ich meine eigene Ausbildungsstätte „Studio“, aus der heraus sehr schnell ein eigenes Ensemble entstand: Die „Studio Oyunculari“ („Studio Spieler“), eine unabhängige Company, die ohne finanzielle Unterstützung arbeitet und mit der ich auf der Suche nach neuen Arbeitsweisen und Theaterformen bin. Wir arbeiten seit nahezu zwanzig Jahren in derselben Spielstätte. Das ist kein einfacher Ort, aber oft inspirieren Schwierigkeiten unsere Kreativität. Wir haben dort eine Bühne mit 45 Sitzen und ein kleines Studio, in dem unsere Workshops stattfinden. Dort unterrichte ich Schauspieler, Autoren und junge Regisseure in meiner Arbeitsweise. Dort spielen wir aber auch unsere Produktionen. Unsere großen Arbeiten seit dem Ende der neunziger Jahre bringen wir jedoch auf anderen Bühnen heraus. „Spieler“ ist der wichtigste Begriff in meiner Arbeit. Damit ist hier nicht „Schauspieler“ gemeint, sondern „Spiel-Spieler“. Schauspiel und Virtuosität sind nur das Handwerk, mit dem wir unser Spiel spielen. In meinen Inszenierungen fühlt sich der Spieler weder in die Psyche der Rolle hinein und durchwandert die Labyrinthe des Unbewussten noch steht er als epischer Erzähler neben seiner Rolle. Dem „Spiel-Spieler“ und seiner Rolle ist es erlaubt und möglich, sich in unzähligen Schichten zu überlagern. Sie sind gleichzeitig anwesend und erkennbar. In all ihrer Sichtbarkeit und Realität existieren die Theaterfigur und der Spieler in einem Augenblick. Sie erzählen und begründen sich gegenseitig. Das Spiel fordert vom Spieler Ehrlichkeit im Hinblick auf die realen Risiken und Herausforderungen des Augenblicks. Die Glaubwürdigkeit des Spielers erwächst in dem, was er tut, unter den Bedingungen, die der Regisseur ihm bietet. Das Publikum ist überzeugt, dass diese Handlung nur so und nicht anders unter den gestellten Bedingungen möglich sein konnte. Es geht nicht darum, das Publikum etwas glauben zu lassen, sondern es zu überzeugen, indem es die Bedingungen der Inszenierung und die Sprache der Ästhetik versteht. In diesem realen Augenblick vollzieht 105