Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
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heißt, es gibt immer mehr Leute auf<br />
dem markt, immer mehr Kunstschaffende,<br />
immer mehr techniker,<br />
schauspieler, im theater wie im Film.<br />
er hat das budget für Kunst nochmal<br />
erhöht, so dass jetzt 1,5 prozent des<br />
staatshaushalts für Kunst ausgegeben<br />
wird. das ist für die arabische<br />
welt äußerst ungewöhnlich.<br />
Heißt das, dass sich die Situation unter<br />
Ben Ali verbessert hat?<br />
nein! absolut nicht! auch bei ben<br />
ali wird dieses Geld für seine eigene<br />
ehre und die ehre seines staates<br />
eingesetzt und manchmal gibt es<br />
dann ein paar Krümel für unabhängige<br />
Künstler, wie wir es sind, in der<br />
hoffnung, etwas davon zurückzuerhalten.<br />
aber ben ali ist ein diktator<br />
und die Freiheiten waren noch nie so<br />
eingeschränkt wie jetzt. durch ben<br />
„es Ist verboten, den<br />
PräsIdenten zu KrItIsIeren.<br />
Ihn und seIne famIlIe,<br />
dIe famIlIe seIner<br />
frau, Ihre brüder und<br />
schWestern, dIe mafIa.“<br />
ali sind wir auf der roten Liste und<br />
dürfen nicht im Fernsehen auftreten.<br />
durch ben ali sind wir zensiert,<br />
noch mehr als unter bourguiba.<br />
Was hat diese Diktatur, die du beschreibst,<br />
für einen Charakter? Ist es<br />
eine religiöse Diktatur, wie wir sie aus<br />
anderen arabischen Ländern kennen?<br />
nein, sie ist fast ausschließlich politischer<br />
natur. es ist verboten, den<br />
präsidenten zu kritisieren. Ihn und<br />
seine Familie, die Familie seiner<br />
Frau, ihre brüder und schwestern,<br />
die Mafia. Es ist verrückt. Ich denke,<br />
dass tunesien das Land auf dieser<br />
welt mit den meisten polizisten ist.<br />
wenn du auf der avenue bourguiba<br />
in tunis spazieren gehst, steht alle<br />
zehn meter ein polizist, in uniform<br />
oder zivil. es herrscht die totale paranoia.<br />
sie glauben, dass es alle zehn<br />
meter ein attentat geben könnte. die<br />
theater, die stadien, die moscheen,<br />
die straßen sind voll von polizisten.<br />
wenn ich 500 zuschauer in einem<br />
FadheL JaIbI — ICh Lebe In eInem sChIzophrenen Land<br />
saal habe, sind mindestens 50 von<br />
ihnen polizisten. es ist völlig wahnsinnig.<br />
es geht so weit, dass die tunesier<br />
selber zu polizisten werden. es ist<br />
eine terrorherrschaft. ben ali hat die<br />
Liga der menschenrechte verboten.<br />
er hat alle parteien der opposition<br />
verboten und die zivilgesellschaft<br />
zerstört.<br />
Welche Auswirkungen hat das auf das<br />
Leben der normalen Menschen, die<br />
eben nicht die Möglichkeit haben, sich<br />
künstlerisch auszudrücken?<br />
es gibt mindesten zwei arten von<br />
tunesiern im Land. viele sind wie<br />
du und ich. sie sind die Kinder von<br />
bourguiba und erben des französisch-<br />
und englischsprachigen<br />
raums. Laizisten und republikaner,<br />
die eigentlich bürger der welt sind.<br />
die an Freiheit, demokratie und<br />
menschenrechte glauben. daneben<br />
existiert ein Land, das religiös und<br />
konservativ ist. dieses Land zieht<br />
sich immer mehr auf sich selbst zurück.<br />
seit dem 11. september und<br />
den diskursen, die dieses datum mit<br />
sich gebracht hat, wegen der medien<br />
und des arabischen Fernsehens, wegen<br />
Israel und der probleme in palästina,<br />
aber auch wegen des westens,<br />
der sich immer mehr verschließt,<br />
gibt es Leute, die sich radikalisieren.<br />
Innerhalb einer einzigen Familie gibt<br />
es so den progressiven vater und<br />
den konservativen sohn. es gibt die<br />
progressive tochter und die konservative<br />
mutter. Innerhalb dieser Familien<br />
herrschen ständig Konflikte.<br />
Die gleichen Konflikte findet man<br />
in der schule, auf der straße und<br />
in den büros. und sogar unter der<br />
herrschenden Klasse. Ich habe das<br />
bei meinem stück „Corps otages“<br />
miterlebt. minister und abgeordnete<br />
aus der gleichen und einzigen partei<br />
stritten sich darum, was mit mir zu<br />
tun sei. sollte man mir mein visum<br />
geben oder mich eher ins Gefängnis<br />
stecken? man braucht mich. die, die<br />
nicht für mich sind, sind nicht unbedingt<br />
gegen mich. das ist schizophren.<br />
Was bedeutet es für dich, in Europa, in<br />
Deutschland zu arbeiten?<br />
Ich denke nicht: ich werde zu hause<br />
unterdrückt, also werde ich es aus-<br />
41<br />
nutzen, im westen zu sein, um endlich<br />
zu sagen, was ich denke. was ich<br />
euch jetzt gerade erzähle, könnte ich<br />
genau so gut in tunesien erzählen.<br />
deshalb spreche ich auch nicht gerne<br />
von mut. Ich wurde nie bedroht<br />
oder verhaftet. reporter werden abgewehrt,<br />
wenn ich komme, und Kameras<br />
werden zerstört, und jedes mal<br />
erwarte ich, dass mir etwas angetan<br />
wird. dass man meine Frau angreift<br />
oder meine tochter entführt. aber<br />
nein, nie passiert etwas. aber ich lebe<br />
trotzdem in dieser paranoia. wenn<br />
ich nach europa komme, ist das für<br />
mich erstmal ein menschliches und<br />
künstlerisches aufatmen. aber die<br />
„medea“, die hier entstehen wird,<br />
wäre die gleiche, wie wenn ich alleine<br />
in tunesien beschlossen hätte,<br />
„medea“ zu produzieren.<br />
Wir haben dich eingeladen, in <strong>Bochum</strong><br />
zu inszenieren, auch weil uns<br />
die Konfrontation mit einem fremden<br />
Blick interessiert. Wie schaust du auf<br />
Deutschland und sein eurozentristisches<br />
Weltbild?<br />
erstmal denke ich, dass ich mit all<br />
meinen eigenarten hierher komme.<br />
Ich entwickele ja selbst eine doppelte<br />
Identität: zur hälfte bin ich araber,<br />
also aus einer muslimischen Kultur,<br />
obwohl ich atheist bin. das ist meine<br />
mediterrane, meine afrikanische<br />
Identität. aber ich bin auch, ob ich<br />
will oder nicht, die Kreuzung von 33<br />
„Wenn Ich 500 zuschauer<br />
In eInem saal habe,<br />
sInd mIndestens 50 von<br />
Ihnen PolIzIsten.“<br />
völkern, die tunesien im Laufe der<br />
Geschichte besetzt haben. zusätzlich<br />
habe ich das Glück, dass ich reisen<br />
kann. mein theater und meine Filme<br />
reisen um die welt. Ich arbeite<br />
überall und lerne dadurch auf der<br />
ganzen welt Künstler kennen. wenn<br />
ich ein stück in europa inszeniere,<br />
tue ich das mit den gleichen ansprüchen,<br />
mit denen ich zu hause inszeniere.<br />
als ich vor fast zehn Jahren in<br />
deutschland „araberlin“ inszeniert<br />
habe, gab es deswegen viele ausein-