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Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum

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Es sind die manifestverfassenden<br />

Künstlerinnen und Künstler, die Dadaisten<br />

und Futuristen, die ihn beschäftigen.<br />

So widmete er sich 2009<br />

beispielsweise mit seiner Truppe, der<br />

„Veenfabriek“, dem Gesellschaftstheoretiker<br />

charles Fourier. Der<br />

Franzose, dessen Theorien aus dem<br />

18. Jahrhundert heute nahezu vergessen<br />

sind, hat die Grundlagen<br />

einer Gesellschaftsform gelegt, die<br />

heute als „anarchismus“ eher berüchtigt<br />

als bekannt ist. In einem<br />

Flugzeughangar, auf einem ehemaligen<br />

Militärflughafen nahe dem<br />

Badeort Katwijk, hat Koek mit der<br />

Veenfabriek das Leben Fouriers in<br />

einer großen dadaistischen Musiktheater-aufführung<br />

nachgezeichnet.<br />

Mit einem zwanzigköpfigen Orchester,<br />

mit tanzenden camping-Zelten<br />

und dem von der Veenfabriek gegründeten<br />

ersten Sirenen-Orchester<br />

der Welt. In der gigantischen Halle<br />

– neben der Flugpiste, auf der die<br />

Königin zuweilen landete, aber auch<br />

Slobodan Milošević, als der dem Den<br />

Haager Kriegsverbrechertribunal<br />

überstellt wurde – übersetzte das Ensemble<br />

die Ideen dieses Utopisten in<br />

visionäres Musiktheater.<br />

Paul Koek ist ein Idealist. Er will<br />

etwas mit seinem Theater. Er experimentiert<br />

immer. Er wählt nie das<br />

sichere Terrain. Er forscht, kramt<br />

vergessene Texte aus, baut verloren<br />

gegangene Instrumente nach, wie<br />

die Geräuschtrompeten der Futuristen,<br />

die Intonarumori. Die kombiniert<br />

er dann mit Instrumenten alter<br />

Musik wie des Mittelalters und des<br />

Barock. Dazu spielt er Instrumente,<br />

die man in Spielzeugabteilungen<br />

von Kaufhäusern findet, und mischt<br />

sie mit Sounds aus dem computer.<br />

Diese Musik spielt er zu den bildgewaltigen<br />

aktionen, den verschmitztkomischen<br />

Handlungen und spektakulären<br />

visuellen Effekten seiner<br />

Stücke. Sein Musiktheater ist keine<br />

verschreckende, anstrengende Experimentalkunst.<br />

Es sind schöne,<br />

fremde, emotionale Tonwelten, die<br />

seine Stücke bevölkern.<br />

Zum Theater kam Paul Koek zunächst<br />

als Bühnenmusiker. Dann<br />

begegnete er Mitte der 1980er Jahre<br />

dem Regisseur Johan Simons. Die<br />

beiden waren von Beginn an ein un-<br />

PaUL KOEK — DER UTOPIST<br />

zertrennliches Team, wie Brüder, die<br />

alles voneinander wissen und sich<br />

ohne Worte verstehen. „Wir waren<br />

ständig zusammen unterwegs. Er<br />

wohnte ja schon fast bei mir. Gemeinsam<br />

fuhren wir mit seinem cadillac<br />

durch die Gegend und redeten<br />

pausenlos. Wir dachten uns neue<br />

Projekte aus, suchten Orte, an denen<br />

wir unser nächstes Stück entwickeln<br />

konnten, sprachen über die Proben,<br />

die vor oder hinter uns lagen. Einmal<br />

fuhren wir an einem Schild vorbei,<br />

auf dem stand, dass jemand Zirkus-<br />

DIE BRILLE HaT PaUL IN EINER KISTE SEINES<br />

GROSSVaTERS GEFUNDEN UND NUR NEUE<br />

GLÄSER EINSETZEN LaSSEN.<br />

zelte verkaufe. Das war so was wie ein<br />

Laden für Second-Hand-Zirkuszelte<br />

irgendwo in Nord-Holland. Sofort<br />

steuerte Johan den amerikanischen<br />

Schlitten in die Seitenstraße und wir<br />

verhandelten über eines der Zelte.<br />

Wir kauften es tatsächlich und der<br />

schräge alte Kerl erklärte uns, wie<br />

wir es aufbauen mussten. So zogen<br />

wir mit dem Zirkuszelt übers Land,<br />

um in abgelegenen Gegenden unsere<br />

Stücke zu spielen.“ Wer es nicht besser<br />

weiß, muss annehmen, dass Koek<br />

und Simons eine Zirkustheatertruppe<br />

betrieben haben. Tatsächlich war<br />

es aber die von Simons gegründete<br />

Gruppe „Hollandia“, die in den<br />

1990er Jahren zum bedeutendsten<br />

zeitgenössischen Theaterensemble<br />

der Niederlande wurde und zu den<br />

einflussreichsten Gruppen Europas<br />

zählte. Sie tourten über den ganzen<br />

Kontinent, zeigten ihre Produktionen<br />

auf Festivals weltweit und wurden mit<br />

diversen Preisen ausgezeichnet, so im<br />

Jahr 2000 mit dem Europäischen<br />

Preis für Innovation im Theater.<br />

15<br />

Bei Hollandia gründete Paul Koek,<br />

der ab 1993 der künstlerische Koleiter<br />

des Theaters war, das „Veen Studio“.<br />

„Veen“, das holländische Wort<br />

für Moor und Sumpf, spielt auf die<br />

feuchte Landschaft an, aus der Koek<br />

stammt. Im Veen Studio wurde mit<br />

einem eigenen Ensemble zeitgenössisches<br />

elektronisches Musiktheater<br />

erprobt. Der Musiker, Komponist<br />

und Koregisseur von Hollandia begann<br />

so, das Verhältnis von Theater<br />

und Musik zu untersuchen. auch im<br />

Ruhrgebiet, in <strong>Bochum</strong>, hinterließen<br />

Paul Koek und Johan Simons einen<br />

bleibenden Eindruck mit ihrer Produktion<br />

„Sentimenti“. 2003 inszenierten<br />

sie für die Ruhrtriennale in<br />

der Jahrhunderthalle diese Bühnenfassung<br />

nach dem Roman „Milch<br />

und Kohle“ von Ralf Rothmann mit<br />

Musik von Verdi. Diese arbeit ist bis<br />

heute eine der Inszenierungen, die<br />

für das Ruhrgebietsfestival stilbildend<br />

waren. Sie war zugleich die letzte<br />

arbeit der beiden unter dem Dach<br />

von Hollandia.<br />

Nach der Auflösung der Gruppe<br />

2005 zögerte Paul Koek nicht lange,<br />

„so zogen wir Mit deM<br />

zirKuszelt übers land,<br />

uM in abgelegenen gegenden<br />

unsere stücKe<br />

zu spielen.“<br />

als ihm eine ehemalige Fabrikhalle im<br />

Zentrum von Leiden angeboten wurde,<br />

nur wenige Kilometer von seinem<br />

Haus am See entfernt, um dort seine<br />

arbeit fortzusetzen. Zusammen mit<br />

Ensemblemitgliedern von Hollandia,<br />

allen voran dem Musiker Ton van der<br />

Meer und dem Dramaturgen Paul<br />

Slangen, gründete er die Veenfabriek.<br />

Er ließ die ehemalige Militärdecken-<br />

Fabrik umbauen und machte sie<br />

zum Stammsitz des Musiktheaterensembles.<br />

Heute beherbergt das<br />

Gebäude ein Restaurant, eine Galerie,<br />

ateliers und vor allem die Büros,<br />

Proben- und aufführungsräume der<br />

Gruppe. Dennoch spielt die Veenfabriek<br />

nach niederländischer Theatertradition<br />

überall im Land. In den<br />

großen Städten und in der Provinz.

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