Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
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entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt<br />
ein bisschen grob sage, ist ja unsinn.<br />
der Staat schützt ja nicht den<br />
Staat um seiner selbst willen. das<br />
tut vielleicht der totalitäre Staat, der<br />
demokratische Staat tut das nicht.<br />
im demokratischen rechtsstaat ist<br />
artikel 1 des grundgesetztes die<br />
höchste norm, mit der der Staat sich<br />
selbst grenzen setzt, sich selbst an<br />
die Verfassung und an die gesetze<br />
bindet und sich verpflichtet, das Individuum<br />
in seiner eigenmacht, in<br />
seiner autonomie zu respektieren.<br />
das kommt in dem grandiosen Satz<br />
von artikel 1 des grundgesetzes zum<br />
ausdruck: „die würde des menschen<br />
ist unantastbar. Sie zu achten<br />
und zu schützen ist Verpflichtung aller<br />
staatlichen gewalt.“ So steht das<br />
in artikel 1. aber ein Satzbestandteil<br />
in artikel 1 wird oft übersehen. da<br />
steht nämlich nicht nur, der Staat hat<br />
die würde des menschen zu achten,<br />
sondern er hat auch die Pflicht, sie<br />
zu schützen. und darum geht es. der<br />
Staat hat eine Schutzverpflichtung<br />
gegenüber dem einzelnen. das heißt,<br />
er muss durch seine institutionen<br />
dafür sorgen, dass Sie nicht getötet<br />
werden, nicht verletzt werden, nicht<br />
erpresst werden, ihnen nicht ihr hab<br />
und gut weggenommen wird, Frauen<br />
nicht vergewaltigt werden.<br />
nun haben wir eine sehr freie<br />
und sehr offene gesellschaft, mit<br />
einem hohen maß an individuellen<br />
Freiheiten. wir leben heute in einem<br />
europa, das wir einen raum der Freiheit,<br />
der Sicherheit und des rechts<br />
nennen. heute reisen wir durch ganz<br />
europa ohne grenzkontrollen. aber<br />
es gibt leider menschen, die die Freizügigkeit<br />
missbrauchen. Verbrecher,<br />
Verbrecherbanden, organisierte Kriminalität<br />
und terrorismus. und der<br />
Staat darf sich damit nicht abfinden,<br />
etwa mit der behauptung, das sei der<br />
Preis der Freiheit. die Kernaufgabe<br />
des Staates ist daher, für die Sicherheit<br />
der bürgerinnen und bürger zu<br />
sorgen. denn ohne Sicherheit gibt es<br />
keine Freiheit.<br />
Hat sich Politik im Laufe der letzten<br />
40 Jahre, die Sie begleitet haben, verändert?<br />
Ja, sie hat sich verändert, meiner<br />
meinung nach durchaus zum guten.<br />
OttO Schily — Schuld & VerantwOrtung<br />
das verdanken wir nicht zuletzt dem<br />
aufkommen der grünen. am anfang<br />
der bundesrepublik sah es so aus, als<br />
ob wir einen geschlossenen Kreis<br />
von politischen Kräften hätten, in<br />
dem sich nie etwas verändern kann.<br />
dann hat sich aber eine entwicklung<br />
vollzogen, in der neue politische<br />
Kräfte allmählich in den demokratischen<br />
Prozess hineingekommen sind<br />
und etwas verändert haben, auch die<br />
diskussionsweise. bestimmte Fragen<br />
haben einen anderen charakter gewonnen.<br />
Ökologische Fragen zum<br />
beispiel ... insofern bin ich überzeugt,<br />
dass die demokratisierung der<br />
gesellschaft in deutschland vorangekommen<br />
ist und die demokratie<br />
sich deutlich stabilisiert hat. in diesem<br />
Sinne ist auch die neu gewonnene<br />
staatliche einheit deutschlands<br />
eine erfolgsgeschichte. eine erfolgsgeschichte<br />
ist das vor allem deshalb,<br />
weil es gelungen ist, die staatliche<br />
einheit deutschlands mit der integration<br />
in die europäische gemeinschaft<br />
zu verbinden. das ist übrigens,<br />
bei aller Kritik, die ich sonst<br />
an ihm habe, ein unbestreitbarer<br />
historischer Verdienst von helmut<br />
Kohl. er hat die wiedervereinigung<br />
europäisch gestaltet.<br />
Hat sich in diesem Prozess der Politikertypus<br />
verändert? Gibt es die großen<br />
charismatischen Typen noch, oder<br />
brauchen demokratische Gesellschaften<br />
gar keine Helden mehr?<br />
ich scheue mich ein bisschen vor<br />
54<br />
dieser ewigen rückwärtsgewandten,<br />
nostalgischen Sicht. Früher hieß<br />
es, nach herbert wehner, helmut<br />
Schmidt, thomas dehler, Fritz erler,<br />
carlo Schmid und Konrad adenauer<br />
gibt es überhaupt keine Politiker<br />
mehr. helmut Schmidt, gewiss ein<br />
großer Staatsmann, lässt uns in seiner<br />
erhabenheit manchmal spüren,<br />
dass nach ihm nur noch Zwerge<br />
kommen. Sicher ist es wichtig, dass<br />
menschen, die Politik machen, eine<br />
Biografie haben. Willy Brandt hatte<br />
eine Biografie, er hatte auch Narben.<br />
Gerhard Schröder hat eine Biografie.<br />
Sie auch ...<br />
Ich hab auch eine Biografie, auch<br />
narben. ebenso Joschka Fischer, mit<br />
einer wirklich spannenden lebensgeschichte.<br />
demokratie ist sicherlich<br />
immer mit einer gewissen nivellierung<br />
verbunden. aber wissen Sie, das<br />
ist ein auf und ab. es werden auch<br />
wieder neue menschen heranreifen,<br />
und die werden ihre ganz eigenen<br />
spannenden Profile haben.<br />
Was vermissen Sie am meisten?<br />
aus der Politik? gar nichts! ich habe<br />
keine entzugserscheinungen. ich bin<br />
froh, dass ich die sieben Jahre als minister<br />
heil überstanden habe. im Parlament<br />
war ich 26 Jahre, das reicht<br />
völlig aus.<br />
Was ist Ihnen am wichtigsten, wenn<br />
Sie auf Ihre Laufbahn zurückschauen?<br />
die modernisierung der deutschen<br />
und europäischen innenpolitik, die<br />
reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts<br />
und die gestaltung einer<br />
weltoffenen Zuwanderungs- und<br />
integrationspolitik, aber auch die<br />
Stärkung der Kompetenz der Sozialdemokratie,<br />
für recht und Ordnung<br />
zu sorgen und Sicherheit als Fundament<br />
der Freiheit zu festigen.<br />
Würden Sie sagen, Sie haben Deutschland<br />
verändert?<br />
das glaub ich schon, ja.<br />
Und hat Deutschland Sie verändert?<br />
Ja, natürlich.