Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
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Goethe war nie in<br />
istanbul, der heimat<br />
von mahir<br />
Günsiray. der<br />
Faust-reGisseur im<br />
Gespräch über das<br />
leben am bosporus,<br />
die einsamkeit eines<br />
pinGuins und picknick<br />
in europa.<br />
MAHIr GüNSIrAy — MEPHISTANBUL<br />
INTErVIEW: THoMAS LAUE UND SABINE rEIcH<br />
FoToS: UGUr TASKIN<br />
Wie lebt es sich in Istanbul?<br />
Schwer und gleichzeitig voller Genuss.<br />
Das Leben dort ist einerseits<br />
prall und voller Energie, Spannung<br />
und Gewalt; eine Art Karneval, den<br />
man tagtäglich erlebt. Das gibt einen<br />
enormen Schub für alles, vor<br />
allem für die künstlerische Arbeit.<br />
Andererseits vermisse ich manchmal<br />
die ruhe europäischer Länder wie<br />
Deutschland. Es ist in Istanbul kaum<br />
möglich, mal allein zu sein und sich<br />
selbst zur rechenschaft zu ziehen.<br />
Was ist das für eine Gewalt?<br />
Die Türkei ist ökonomisch an Europa<br />
und Amerika gebunden und<br />
die Menschen sind gezwungen, wie<br />
rennpferde ihrem Leben hinterher zu<br />
jagen. Es ist ein Leben, das zwischen<br />
Geldverdienen und Faulheit pendelt.<br />
So lange du Geld verdienst, existierst<br />
du durch das, was du besitzt. Wenn<br />
nicht, existierst du überhaupt nicht.<br />
Wenn ein Mensch dann wahrgenommen<br />
werden will, muss er entweder<br />
zum Theater gehen – was nicht allzu<br />
verbreitet ist – oder auf die Bosporusbrücke<br />
oder das Dach eines Hauses<br />
steigen und drohen, sich mit einer<br />
Axt die Hand abzuhacken. Bei den<br />
großen Einkommensunterschieden<br />
und den Lücken in den sozialen und<br />
kulturellen Lebensbereichen ist es eigentlich<br />
erstaunlich, dass das Leben<br />
überhaupt funktioniert und es nicht<br />
noch mehr Gewalt gibt. Gleichzeitig<br />
ist Istanbul aber nicht die Türkei.<br />
Worin bestehen die Unterschiede?<br />
Es gibt nicht überall in der Türkei<br />
den gleichen Lebenskampf, das gleiche<br />
Streben, das rennen um die Zeit,<br />
die gleichen Konflikte. Es gibt unterschiedliche<br />
Kulturen, Menschen,<br />
Sprachen, Lebensweisen, sehr unterschiedliche<br />
religiöse, moralische und<br />
philosophische Ansichten.<br />
Das heißt, eine Mischung, die eine große<br />
Metropole ausmacht.<br />
Ja, Istanbul ist eine Metropole, aber<br />
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man kann Istanbul nicht stellvertretend<br />
für die ganze Türkei sehen. Allein<br />
optisch und geografisch ist es<br />
ein Unterschied, ob man die rötliche<br />
Erde, die Berge und die trockene Kälte<br />
im Südosten betrachtet oder das<br />
Gewirr der Gebäude in Istanbul. An<br />
vielen orten der Türkei bauen Arme<br />
ihre Häuser mit wenig Geld selbst.<br />
Aber weil man sogar das in Istanbul<br />
schnell machen muss, nennt man<br />
sie hier „gece kondu“, was so viel bedeutet<br />
wie „über Nacht gelandet“.<br />
Welche Rolle spielt dabei Religion?<br />
Wir befinden uns in einer Zeit, in der<br />
offen diskutiert wird, was Menschen<br />
überhaupt unter religion verstehen.<br />
Soll religion das Leben bestimmen<br />
oder nicht? Soll sie sich in das Leben<br />
einmischen oder soll man sie<br />
im Privaten ausleben? Wie weit soll<br />
man die religion praktisch umsetzen<br />
oder nicht umsetzen? Man sieht jetzt<br />
in Istanbul viele Frauen mit Kopftuch.<br />
Es heißt, die Kopftuchdebatte<br />
sei schärfer geworden, dabei ist sie<br />
eigentlich nur ins Tageslicht gerückt.<br />
Das Thema gab es schon immer. Weil<br />
Frauen aus einer religiösen Schicht<br />
früher ihr Kopftuch nicht tragen<br />
durften – sei es aus persönlichen,<br />
moralischen oder aus familiären<br />
Gründen – konnten sie nicht in die<br />
Gesellschaft. Jetzt, wo das Thema so<br />
im Zentrum steht, sieht man auch<br />
überall Kopftücher. Sicher hat das<br />
aber auch dazu geführt, dass manche,<br />
die kein Kopftuch getragen haben,<br />
jetzt von den Ehemännern dazu<br />
aufgefordert werden.<br />
Ein anderes Beispiel ist ramadan.<br />
Ich bin Atheist und deshalb hat ramadan<br />
für mich eigentlich keine<br />
Bedeutung. Aber es war mir früher<br />
unangenehm, tagsüber mit einem<br />
Sesamring in der Hand durch die<br />
Stadt zu laufen, weil es eine gewisse<br />
Spannung gab und die Menschen gezeigt<br />
haben, dass es sie stört. Es wäre<br />
falsch zu sagen, dass diese Situation<br />
komplett aufgehoben ist, aber sie hat<br />
sich in vielen Gegenden von Istanbul<br />
aufgelockert. Abgesehen davon, dass<br />
die derzeitige regierungspartei AKP<br />
konservativ, rechtsorientiert, liberal<br />
und islamisch ist, kann man sehen,<br />
dass sie gleichzeitig viel offener ist als<br />
viele Sozialdemokraten und Sozialis-