Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
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SAHIKA TEKAND — SPIELREGELN<br />
SPIELREGELN<br />
TExT: SAHIKA TEKAND<br />
FoToS: UgUR TaSkin<br />
Ich bin eine Spielemacherin: Obwohl ich eigentlich die<br />
Verwandlung des Lebens in ein reines Spiel ablehne, versuche<br />
ich als Künstlerin eine Form zu entwickeln, die sich<br />
der Verwechslung des Spiels mit dem Leben widersetzt.<br />
Mein Theater konzentriert sich auf das Spiel.<br />
Zurzeit behandeln wir alle unser Leben als ein Spiel, ein<br />
Spiel, in das wir nicht eingreifen können, das uns keine<br />
Wahl zu lassen scheint. Leben und Spiel werden von den<br />
aktuellen Strömungen in der Kunst negiert. Wir wissen<br />
nicht, was real und was virtuell ist. Leben und Spiel verschwimmen<br />
zunehmend. Dagegen steht für mich das Theater.<br />
Das Theater, das von der Realität des augenblicklichen<br />
Momentes erzählt. Theater ist nicht Leben, sondern strikt<br />
etwas anderes.<br />
Als ich in den frühen achtziger Jahren Schauspiel studierte,<br />
waren die Veränderungen, die in der Welt geschahen,<br />
so schnell und intensiv, dass sie beinah überall greifbar<br />
wurden. In diesen Jahren interessierte mich besonders<br />
die Frage, wie Performance-Kunst aussehen könnte. Als<br />
Künstlerin fragte ich mich, wie man zeitgenössisches Theater<br />
machen könne, das die Realität des augenblicklichen<br />
Momentes in sich aufnimmt, ohne seine eigene künstliche<br />
Form zu verschleiern. Ich wollte das Theater zu einer<br />
aktuellen, zeitgenössischen Kunstform machen.<br />
So habe ich eine Form entwickelt, die ich „Darstellende<br />
Aufführungs- und Schauspielmethode“ nenne. Meine<br />
Methode entstand als Auseinandersetzung und Kritik an<br />
den formalen Theatermitteln und an einer Tendenz in den<br />
Künsten, das Leben zunehmend zu ästhetisieren. Gerade<br />
das Theater, das mit einem kritischen Anspruch formuliert<br />
wurde, gab eine naturalistische und sehr idealistische Abbildung<br />
der Welt wieder. Ich aber war auf der Suche nach<br />
einem Theater, das einem zeitgenössischen Publikum und<br />
seiner Sichtweise entsprach und das dennoch der Realität<br />
des Aktuellen gerecht wurde. So gründete ich meine eigene<br />
Ausbildungsstätte „Studio“, aus der heraus sehr schnell<br />
ein eigenes Ensemble entstand: Die „Studio Oyunculari“<br />
(„Studio Spieler“), eine unabhängige Company, die ohne<br />
finanzielle Unterstützung arbeitet und mit der ich auf<br />
der Suche nach neuen Arbeitsweisen und Theaterformen<br />
bin. Wir arbeiten seit nahezu zwanzig Jahren in derselben<br />
Spielstätte. Das ist kein einfacher Ort, aber oft inspirieren<br />
Schwierigkeiten unsere Kreativität. Wir haben dort eine<br />
Bühne mit 45 Sitzen und ein kleines Studio, in dem unsere<br />
Workshops stattfinden. Dort unterrichte ich Schauspieler,<br />
Autoren und junge Regisseure in meiner Arbeitsweise.<br />
Dort spielen wir aber auch unsere Produktionen. Unsere<br />
großen Arbeiten seit dem Ende der neunziger Jahre bringen<br />
wir jedoch auf anderen Bühnen heraus.<br />
„Spieler“ ist der wichtigste Begriff in meiner Arbeit.<br />
Damit ist hier nicht „Schauspieler“ gemeint, sondern<br />
„Spiel-Spieler“. Schauspiel und Virtuosität sind nur das<br />
Handwerk, mit dem wir unser Spiel spielen. In meinen Inszenierungen<br />
fühlt sich der Spieler weder in die Psyche der<br />
Rolle hinein und durchwandert die Labyrinthe des Unbewussten<br />
noch steht er als epischer Erzähler neben seiner<br />
Rolle. Dem „Spiel-Spieler“ und seiner Rolle ist es erlaubt<br />
und möglich, sich in unzähligen Schichten zu überlagern.<br />
Sie sind gleichzeitig anwesend und erkennbar. In all ihrer<br />
Sichtbarkeit und Realität existieren die Theaterfigur und<br />
der Spieler in einem Augenblick. Sie erzählen und begründen<br />
sich gegenseitig.<br />
Das Spiel fordert vom Spieler Ehrlichkeit im Hinblick<br />
auf die realen Risiken und Herausforderungen des Augenblicks.<br />
Die Glaubwürdigkeit des Spielers erwächst in dem,<br />
was er tut, unter den Bedingungen, die der Regisseur ihm<br />
bietet. Das Publikum ist überzeugt, dass diese Handlung<br />
nur so und nicht anders unter den gestellten Bedingungen<br />
möglich sein konnte. Es geht nicht darum, das Publikum<br />
etwas glauben zu lassen, sondern es zu überzeugen, indem<br />
es die Bedingungen der Inszenierung und die Sprache der<br />
Ästhetik versteht. In diesem realen Augenblick vollzieht<br />
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