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Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum

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wiR wOllEN STillE SiTZEN<br />

uND NiCHT wEiNEN<br />

i<br />

KaRSTEn RiEdEL & chRiSTOph FRicK — phanTOMSchMERz<br />

(JOSEph VOn EichEndORFF, SOnETT)<br />

t‘s the end of the world as we know it“ – davon sind<br />

wir seit dem Fin de Siècle, dem ausgehenden 19. Jahrhundert<br />

überzeugt. Seitdem herrscht Weltschmerz. Jede<br />

aufbegehrende Generation der immer neuen Modernen<br />

findet einen Grund zu trauern. Wir gehen unter, seit mehr<br />

als hundert Jahren. dabei halten wir uns wie Ertrinkende<br />

fest an Konzepten, die die Realität weder damals noch heute<br />

adäquat beschreiben, sondern ästhetisch verklären.<br />

„Modernität“, das war kein begriff der ingenieure oder<br />

Wissenschaftler, die im 19. Jahrhundert Fabriken und<br />

dampfmaschinen bauten. „Moderne“, das ist ein begriff<br />

aus der poetik, der die neue Literatur des Sturm und drang<br />

und der Romantik von den Vorbildern der antike emanzipierte.<br />

die poetische Moderne war ein ästhetisches Konzept<br />

als Gegenentwurf zu einer rasenden Welt. Sie hat den<br />

Stillstand ausgerufen. Sie erfand begriffe und Konzepte, die<br />

anriefen und beschworen, was verloren war oder niemals<br />

existiert hatte. Es stimmte damals so wenig wie heute.<br />

Es ging um „nation“, als der imperialismus erstarkte,<br />

Europa seine Grenzen ausweitete und die Gesellschaften<br />

zum ersten Mal Globalisierung erfuhren. „heimat“ wurde<br />

im Moment der heimatlosigkeit und in einer der „migrationsintensivsten<br />

perioden der neueren Geschichte“<br />

(Jürgen Osterhammel) zum zentralen begriff und nichts<br />

konnte so sehnsuchtsvoll „das abwesende Ganze, die verlorene<br />

Kindheit des Menschen“ (hans Robert Jauß) in einem<br />

Wort anrufen wie die „natur“.<br />

Wir verbinden die Romantik mit schönen Gedichten<br />

über die natur. in dieser deutschen dichtung, die die<br />

Landschaft und den Wald besingt, glauben wir, naturverbundenheit<br />

zu finden, die „wir Modernen“ heute schmerzlich<br />

vermissen. dabei wird übersehen, dass diese deutsche<br />

dichtung auch damals schon Verluste beklagte und ferne<br />

idyllen besang. die gesellschaftlichen Umwälzungen des<br />

19. Jahrhunderts griffen massiv in den Umgang mit den<br />

natürlichen Ressourcen ein. als die Kohle ans Licht gefördert<br />

wurde und eine ganze industrie zum Kochen brachte,<br />

war natur nichts mehr als Rohstoff und Material einer<br />

unablässig wachsenden industrie. in diesem augenblick<br />

erkor die deutsche Empfindsamkeit die „Natur“ zum Labsal<br />

frierender Seelen, die an den Kältewellen der industrialisierung<br />

und Modernisierung litten. Wie vor einem<br />

schönen bild stehen wir bewundernd davor, allein und<br />

frierend. „deswegen ist das Gefühl, womit wir an der natur<br />

hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit wir das<br />

entflohene Alter der Kindheit und der kindlichen Unschuld<br />

beklagen“, schrieb Schiller 1795. die blümchenmuster auf<br />

den Sitzkissen wärmten innen, als die Welt draußen ungemütlich<br />

und kalt wurde.<br />

80<br />

iN EiNEM küHlEN gRuNDE,<br />

DA gEHT EiN MüHlENRAD,<br />

(...) HöR iCH DAS MüHlRAD gEHEN,<br />

iCH wEiSS NiCHT, wAS iCH will,<br />

iCH MöCHT’ AM liEbSTEN STERbEN,<br />

DA wäR’S AuF EiNMAl STill.<br />

Z<br />

(JOSEph VOn EichEndORFF, LiEd)<br />

wischen idylle und nostalgie, Vision und Verlust<br />

bewegt sich die romantische Literatur und sie ist<br />

damit die erste moderne Literatur. alle Spannungen und<br />

Widersprüche der Moderne finden sich in den Texten der<br />

Romantiker. Sie waren die, die genau hinsahen, als die<br />

Welt, die sie kannten, unterging.<br />

nichts ohne Verfallsdatum, alles relativ: Wer heute<br />

modern ist, ist morgen schon passé. nichts ist so alt wie<br />

das Kleid aus der letzten Saison, nichts so schal wie die<br />

Trends von Gestern. plötzlich und blitzartig wechseln die<br />

Moden, Diskurse und Formen. Es ist diese spezifische Erfahrung<br />

von zeitlichkeit, die sich über das denken legt, die<br />

den Kern der Moderne ausmacht. Von nun an ist alles im<br />

Fluss: Geschichte und Moral, Kunst und Mensch, alles ist<br />

veränderlich und wandelbar, alles der zeit unterworfen. Es<br />

ist immer schon vorbei und wir stehen immer schon auf<br />

schwankendem boden.<br />

doch aus genau dieser Spannung bezieht das moderne<br />

denken seine Kraft und dynamik. Genau deshalb beschreiben<br />

sich moderne Gesellschaften als offene und dynamische<br />

Gesellschaften, die Mobilität und Vielfalt positiv<br />

beschreiben. Genau deshalb verstehen wir identität als<br />

einen vielschichtigen Prozess. Rollen und Biografien sind<br />

in bewegung. Kultur und heimat bestimmen sich nicht<br />

durch herkunft, sondern entstehen aus dem faktischen<br />

Lebensentwurf eines jeden. aus dieser Spannung heraus<br />

bilden sich eine ambivalenz und ein begriff von Freiheit,<br />

die es beide auszuhalten gilt.<br />

das tut manchmal weh. Wie schön es ist, zu leiden,<br />

sehen wir bei Eichendorff. Und manchmal ist es wichtig,<br />

zu leiden und sich über Verluste zu verständigen. Um uns<br />

daran zu erinnern, brauchen wir die ersten Modernen und<br />

ihre Literatur. aber es ist zeit, den Weltschmerz des 19.<br />

Jahrhunderts zu überwinden. Wir leiden immer noch am<br />

selben phantomschmerz und weigern uns einzugestehen,<br />

dass sich die amputation vor mehr als hundert Jahren ereignete.<br />

aber die Welt geht so geschwinde. Sie ändert sich<br />

immer.

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