Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ge möglichkeiten haben. ich kann<br />
ein ereignis wie den 11. September<br />
nicht mehr rückgängig machen. ich<br />
bin also vor eine Situation gestellt,<br />
aus der heraus ich handeln muss.<br />
natürlich hätte ich lieber den 11.<br />
September vermieden und die Folgerungen,<br />
die sich daraus ergaben. das<br />
wird übrigens sehr eindrucksvoll von<br />
leo tolstoi in den historischen Zwischenbetrachtungen<br />
seines großen<br />
romans „Krieg und Frieden“ dargestellt.<br />
er beschreibt dort, dass nicht<br />
nur das individuum entscheidet,<br />
sondern dass sich aus einer Vielzahl<br />
von wirkungen ein geschehen entwickelt<br />
und der einzelne mit seinen<br />
individuellen entscheidungen darin<br />
verwoben ist und seinem Schicksal<br />
gewissermaßen nicht entfliehen<br />
kann. Früher hieß es: „männer machen<br />
geschichte“. Vielleicht macht<br />
eher die geschichte die Personen.<br />
Sie beziehen sich auf reale Ereignisse,<br />
die nicht planbar sind, die aber plötzlich<br />
in das Leben treten, nicht nur eines<br />
Politikers, sondern auch einer Gesellschaft.<br />
Hat Realität Sie in Ihren Überzeugungen<br />
verändert?<br />
Jede neue erfahrung eröffnet neue<br />
einsichten. unser leben ist deshalb<br />
ein ständiger lernprozess. ich nehme<br />
für mich in anspruch, dass ich<br />
selbst im fortgeschrittenen alter<br />
noch die augen und Ohren offen<br />
halte. Vielleicht würde ich in der<br />
rückschau manches anders beurteilen<br />
und mich anders verhalten. aber<br />
Sie können ja manche Sachen nicht<br />
vorher wissen. da sind wir genau<br />
bei dem Punkt: Sie werden vor eine<br />
bestimmte Situation gestellt und Sie<br />
müssen rasch entscheiden. wie der<br />
berühmte Pilot, donald Sullivan, der<br />
auf dem hudson notgelandet ist, ein<br />
bewundernswerter mann. er kommt<br />
in eine äußerst bedrohliche lage, es<br />
geht um leben oder tod und er muss<br />
in Sekunden entscheiden. er war gut<br />
trainiert, auch kaltblütig und wusste<br />
mit der maschine umzugehen. und<br />
er war entscheidungsstark. das ist<br />
auch in der Politik wichtig. was übrigens<br />
gerhard Schröder auszeichnet.<br />
das ist ein mann mit außergewöhnlicher<br />
entschiedenheit und willensstärke.<br />
OttO Schily — Schuld & VerantwOrtung<br />
Heißt das, dass es manchmal wichtiger<br />
ist, eine schnelle Entscheidung zu treffen<br />
als gar keine Entscheidung?<br />
gelegentlich ja.<br />
Auch wenn diese Entscheidung möglicherweise<br />
falsch ist?<br />
auch wenn sie mit einem risiko behaftet<br />
ist, ja.<br />
Dann ist Politik in jedem Fall mit Intuition<br />
verbunden, weil man in so einem<br />
kurzen Moment nicht mit der Vernunft<br />
entscheiden kann.<br />
mit intuition, ja. man muss die Situation<br />
erkennen. Sie müssen in<br />
der lage sein, mehrere Sachverhalte<br />
gleichzeitig zu erfassen. wenn Sie es<br />
sehr intellektuell angehen, dann wie<br />
ein Schachspieler, der mindestens<br />
drei Züge im Voraus berechnen kann.<br />
Schach ist bekanntlich ein intuitives<br />
Spiel. deshalb verdirbt uns zum bei-<br />
spiel der computer das Schachspiel,<br />
weil Sie da nur ein flächiges Bild haben.<br />
immer, wenn ich mit dem computer<br />
Schach gespielt habe, habe ich<br />
mein Schachtalent verschlechtert.<br />
Schach ist ein räumliches Spiel und<br />
Sie müssen es räumlich erfassen können.<br />
Sie müssen die intuition haben<br />
und fragen: „wie kann sich das entwickeln?“<br />
auf die Politik übertragen<br />
bedeutet das: Sie brauchen einfach<br />
die Fähigkeit, verschiedene Faktoren<br />
und Koordinaten so wahrzunehmen,<br />
dass Sie daraus eine Orientierung gewinnen.<br />
53<br />
Danach scheint Politik etwas Intuitives,<br />
Schnelles zu sein, auch etwas Dynamisches,<br />
was aus bestimmten Situationen<br />
heraus agiert. Wohingegen doch<br />
Recht etwas Statisches sein muss, das<br />
sich von den Dingen abstrahiert.<br />
ich könnte sagen, das recht kommt<br />
immer a posteriori und die Politik<br />
kommt a priori. das heißt, die Politik<br />
ist vorausschauend, das recht<br />
beurteilt das geschehen aus der retrospektive.<br />
– na ja, eigentlich ist das<br />
nicht ganz korrekt, die rechtsnorm<br />
soll ja gewissermaßen auch eine<br />
handlungsanleitung sein.<br />
Gibt es Zwänge, in denen Sie in Ihrer<br />
Position als Innenminister waren, wo<br />
Sie aus politischen Überlegungen anders<br />
handeln mussten, als Sie als Jurist<br />
und Anwalt gehandelt hätten?<br />
cicero hat von sich gesagt, er habe<br />
unterschiedliche aufgaben innerhalb<br />
staatlicher institutionen und<br />
früher als anwalt wahrgenommen,<br />
und man dürfe nicht Äpfel mit birnen<br />
vergleichen. das gilt auch für<br />
mich. meine tätigkeit als anwalt im<br />
Vergleich zur tätigkeit als innenminister<br />
muss man ebenso in einem<br />
anderen Kontext sehen. ich betone<br />
aber, es gibt eine Kontinuität und<br />
das ist die rechtsstaatsorientierung.<br />
die gilt für den innenminister wie<br />
für den anwalt.<br />
Wie machtbewusst muss ein Politiker<br />
sein?<br />
er muss macht anstreben, selbstverständlich.<br />
Ohne macht kann er keine<br />
Politik gestalten. im demokratischen<br />
rechtsstaat ist machtausübung aber<br />
an legitimation gebunden. wenn Sie<br />
keine legitimation aufbauen, haben<br />
Sie keine Überzeugungskraft und<br />
dann geht es schief.<br />
Als Innenminister mussten Sie immer<br />
wieder Maßnahmen verantworten, die<br />
oftmals um die Frage kreisten, wie weit<br />
der Staat Persönlichkeitsrechte oder<br />
die Rechte des Einzelnen einschränken<br />
darf, um den Staat zu schützen.<br />
da kommen Sie leider in die verquere<br />
Fragestellung, der ich sehr häufig<br />
begegne. dass Sie nämlich einen<br />
gegensatz bilden wollen zwischen<br />
staatlichen Sicherheitsinteressen<br />
und den individualrechten. das,